Strasse der Sterne
sie verfolgten, nur nachts. Jetzt aber drangen sie plötzlich von allen Seiten auf sie ein, raunend zunächst, bald aber schon lauter, bis sie anschwollen zu einem Sturm.
Sie presste die Hände gegen die Ohren, schloss die Augen.
Irgendwann wurden sie leiser und verstummten schließlich ganz.
Sie schwitzte, ihr Herz schlug bis zum Hals und ihr Kopf war ganz leer, aber sie hatte überlebt - bis zur nächsten Attacke.
Estrella spuckte aus, um den üblen Geschmack loszuwerden. Ein Stück entfernt entdeckte sie einen Brunnen. Kühles Wasser auf Stirn und Hals erschien ihr jetzt geradezu als eine Köstlichkeit.
Sie war fast bei dem Brunnen angelangt, als sie stutzte. Zwei plumpe Männerbeine lagen leblos auf dem rötlichen Boden; beim Näherkommen sah sie den kräftigen Rumpf, in dem ein Messer steckte.
Estrella stieß einen spitzen Schrei aus.
Vor ihr lag der Mann, der noch gestern seine Zukunft wissen wollte - tot, wie die Karte geweissagt hatte.
*
Am Gotthardpass, April 1246
In seiner letzten Nacht legte Camino sich zu Alba. Der Nonno und Lucia schliefen bereits, aber irgendwann, als er näher an die Frau rutschte, wachte der Alte auf, hob schweigend das Kind hoch und verschwand in der Kammer.
Camino fühlte sich seltsam. Das ungewohnte Steineschleppen nach all den Monaten erzwungener Untätigkeit hier oben im Schnee hatte seinen Körper ermüdet. Sein Hals war rau, und seit dem Nachmittag glühte auch sein Kopf. Aber er hatte sich vorgenommen, sie nicht ohne Abschied zu verlassen. Ein zorniger Asket ist wie trockenes Holz, dachte er. Was nützt das Gelübde der Enthaltsamkeit, wenn es die Menschen traurig und einsam macht?
Vorsichtig begann er ihren Rücken zu streicheln, dann, mutiger geworden, die kräftigen Hüften und das Gesäß.
»Warum tust du das?«, fragte sie.
»Wenn du die Zielscheibe treffen willst, solltest du ein wenig darüber hinaus zielen. Wenigstens lautet so eine alte Ritterregel.« Er lächelte. »Ich will es. Und ich glaube, du willst es auch.«
»Ich weiß nichts von deinen Rittern. Aber dass du mich all die Zeit ebenso wenig wahrgenommen hast wie einen fauligen Hafersack, das weiß ich.«
»Du bist alles andere als ein fauliger Sack«, sagte er. »Verzeih mir, wenn ich dich gekränkt habe! Ich fürchte, ich bin im Umgang mit Frauen nicht besonders geübt.«
Sie reagierte auf seine Berührung. Langsam spürte er, wie seine Erregung wuchs. Ihre Haut wurde warm. Sie fühlte sich weich und geschmeidig an. Wenn das Sünde war, dann wusste er, warum alle davor warnten.
»Was bin ich dann?« Sie drehte sich zu ihm herum.
Im Schein des Feuers waren ihre Augen fast schwarz. Zarter Flaum wuchs auf ihrer Oberlippe; der Mund war weich und rot.
»Schön bist du«, sagte er. »Aber du darfst nicht immer traurig sein, Alba. Deine Kleine braucht doch eine fröhliche Mutter.«
Mit einem erstickten Schrei presste sie sich an ihn. Und dann ließ sie einen Strom von Worten los, den er nur zum Teil verstand.
»Wenn Gott uns liebt, warum hat er uns dann ausgerechnet hier zur Welt kommen lassen?« Ihre Stimme klang bitter. »Michele hat er mir schon gestohlen. Und nun stiehlt er mir auch noch dich.«
»Binde zwei Vögel zusammen«, sagte er sanft. »Sie werden nicht fliegen können, obwohl sie nun vier Flügel haben.«
»Manchmal hasse ich deine Klugheit«, flüsterte sie.
Mit ihren Küssen brachte sie ihn zum Schweigen. Sie schmeckte ganz anders, als seine Liebste geschmeckt hatte, wild und süß, nach Wurzeln und Wald. Alba riss ungeduldig an seinen Kleidern, voller Angst, er könne es sich vielleicht noch einmal anders überlegen. Sie atmeten heftig, als sie beide endlich nackt waren. Seine Hände fanden den Weg zu ihren Brüsten. Ihr Schoß nahm ihn auf. Es war nicht die Leidenschaf t , die er vor einem halben Menschenleben erfahren hatte, aber es schien einfach und selbstverständlich, was sie taten.
»Du brauchst einen Mann«, sagte er, als sie sich wieder voneinander gelöst hatten. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn. »Sonst gehst du in dieser Einsamkeit zugrunde. Weißt du nicht, dass Lucia heimlich von einem kleinen Bruder träumt?«
»Damit meine Sorgen noch größer werden?« Sie küsste seinen Hals. »Und welchen von den Männern im Dorf sollte ich schon nehmen - nach dir?«
Sie stand auf, ohne sich um ihre Nacktheit zu kümmern, und kam mit Brot, Käse und einem Krug warmem Bier zurück. Er aß und trank gieriger als sie, was ihr zu gefallen schien, obwohl
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