Strasse der Sterne
in Granada, den Laila ihr empfohlen hatte, wenngleich die Alte freilich damals nicht ahnen konnte, dass sie zu diesem Erfolg nicht ganz freiwillig beitragen würde. Estrella hatte ihr die Karten gestohlen, als sie eines Nachts die Gauklertruppe in Córdoba verlassen hatte, weil sie die Nachstellungen Pedros endgültig satt hatte.
Was sollte sie mit einem Feuerschlucker, der grobe Hände hatte und sie von früh bis spät als seine Königin anschmachtete? Eine Frau war schließlich kein Esel, der sich nach Belieben reiten ließ!
Wie eine Königin hatte sie nicht gerade gelebt, seitdem sie allein unterwegs war, aber auch nicht allzu oft gehungert. Meist genügte es schon, sich irgendwo niederzulassen, wo viele Menschen zusammenkamen, den Rock ein wenig zu schürzen und die Karten scheinbar selbstversunken vor sich auszulegen. Nach kurzer Zeit verlangsamte die erste Neugierige ihren Schritt; bald darauf blieb die nächste stehen, und in der Regel begann bereits die dritte vorsichtig zu fragen, ob sie ihr nicht die Zukunft deuten könne.
Frauen waren leicht zu durchschauen. Die Fragen, die sie ihr stellten, glichen einander wie ein wolkenloser Sommertag dem anderen. Bald schon konnte sie die Antworten mühelos herunterschnurren. Immer fragten sie nach Liebe, Glück, Gesundheit. Und immer setzte sie eine bedeutungsvolle Miene auf, ließ beim Mischen die Karten geschmeidig durch ihre schlanken Hände gleiten, die Fragerin dreimal abheben, um sie dann fächerförmig vor ihr auszubreiten.
Dreimal durfte gezogen werden.
Die Fragerinnen ahnten nicht, dass sie jedes einzelne Blatt unsichtbar markiert hatte. Ihre Hände erkannten sofort, ob es sich um den Hierophanten, den Stern oder die Sonne handelte, und noch vor dem Aufdecken hatte sie bereits die passende Antwort parat. Natürlich variierte sie die Geschichte immer ein bisschen, je nachdem, ob sie eine Junge, eine Alte, eine Unzufriedene oder Verzweifelte vor sich hatte. Mal warnte sie, dann wieder sprach sie Trost zu oder weckte die süßesten Hoffnungen. Die Gesichter vor ihr veränderten sich, während sie sprach, wurden leer vor Erwartung oder verzerrten sich sehnsüchtig.
Nein, mit den Frauen kam sie bestens zurecht.
Das Problem waren die Männer. Sie waren das Problem, seit ihr der Flaum in den Achselhöhlen und auf der Scham gewachsen war. Die Fülle ihrer Lippen, die hohen Wangenknochen und der verheißungsvolle Gang schienen etwas zu versprechen, was die Männer gierig und sehnsüchtig zugleich machte.
Eine gefährliche Mischung, wie Estrella inzwischen wusste.
Wenigstens hatte sie ein paar Stunden geschlafen. Sie merkte, dass die Panik verschwunden war, die ihr am Mageneingang gesessen hatte wie eine Ratte, bereit zuzubeißen. Wie hätte sie auch ahnen können, dass der bullige Mann derart heftig reagieren würde?
Vielleicht hätte sie nicht so unaufmerksam sein dürfen, was sich immer bei der Arbeit rächte. Aber an einem der gegenüberliegenden Stände hatte sie einen jungen Mann entdeckt, der sie in seiner Haltung an Ari erinnert hatte, obwohl er nicht halb so gut aussah wie er. Aber wer konnte Ari überhaupt das Wasser reichen? Ari, der Löwe. Der einzige, den sie jemals geliebt hatte. Sie wären das ideale Paar gewesen, von allen im Ghetto beneidet.
Aber sie war keine Jüdin.
Deshalb war auch nichts aus dieser Verbindung geworden. Sie war ein Nichts, wie sie inzwischen wusste. Ihre leibliche Mutter hatte sie weggeworfen wie ein stinkendes Bündel Lumpen, nachdem sie sie geboren hatte. Keine Ahnung, aus welchem Schoß sie ins Leben getreten war. Es gab nur diesen großen grünen Stein, den sie immer bei sich trug - sonst nichts.
Sie konnte Ari nicht vergessen. Seine rauchfarbenen Augen, seine helle Haut. Mit seiner Schönheit betörte er Männer und Frauen gleichermaßen und schien es nicht einmal zu bemerken. Dabei sparte er mit Wörtern und hortete sie, als wolle er sich einen Vorrat sichern für den Tag, an dem er endlich den Mund aufmachen würde. Wäre es nach ihr gegangen, er hätte gar nicht reden müssen. Aber niemand hatte Estrella gefragt, was sie sich wünschte.
Mühsam hatte sie versucht, diese quälenden Erinnerungen abzustreifen, als die Karte des Todes vor ihr lag.
»Der Tod bedeutet eine große Wandlung«, begann sie mechanisch. »Nichts wird mehr so sein wie ...« Der jäh aufflackernde Hass in den Augen des Mannes ließ sie verstummen.
»Weißt du, was man mit solchen wie dir macht?«, sagte er. »Man bindet sie an Händen und
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