Strasse der Sterne
Sinne.
In seinen Träumen hörte er Schritte, ein Fauchen und Zischen, schließlich das Knacken von Zweigen. Er schien mit offenen Augen zu halluzinieren, denn der Fels über seinem Kopf war nicht mehr blank, sondern mit rötlichen und schwarzen Linien bedeckt. Gittermuster glaubte er zu erkennen, Leitern mit mehreren Holmen, eine Menschenfigur mit erhobenen Händen.
Irgendwann tauchte er wieder auf, aus einem Strudel von Bildern. Er war nicht mehr allein. Auf der anderen Seite des Feuers kauerte eine Gestalt in einer braunen, ziemlich abgerissenen Kutte.
»Trink!« Die Stimme klang, als würde sie nur selten benutzt.
Süß und heiß rann etwas seine Kehle hinunter. Nie zuvor hatte er etwas so Köstliches getrunken.
Abermals trieb er weg, bis seine Lider sich langsam öffneten. Links über ihm schwebte eine Vulva. Und er meinte auf einmal ganz nah bei seinem Ohr Albas Stöhnen zu hören. Als er sich etwas bewegte, bemerkte er, dass auch sie eine Felszeichnung war. Aber sie schien so echt, beinahe lebendig!
Etwas kitzelte seine Füße. Dann spürte er Brennen.
Ein Tier? Oder lösten sich die rätselhaften Linien von den Wänden?
»Wer bist du?«, flüsterte er. »Ein Engel? Oder der Teufel?«
Ein raues, fröhliches Gelächter.
»Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Ich bin Frater Niccolo. Andere nennen mich >Wächter des Passes<. Aber darüber brauchst du jetzt nicht nachzudenken. Schon lieber deine Kräfte. Du hast hohes Fieber, und ich hab die meisten meiner Kräuter im Hospiz gelassen. Aber Hanf und Holundersaft werden schon ihre Wirkung tun.«
Camino wollte sich nicht damit zufrieden geben. »Hast du es auch gesehen?«, krächzte er und deutete vage nach oben.
»Die Heidenbilder? Natürlich. Viele Male! Aber sie sind alt und können dir kein Leid zufügen. Außerdem pass ich jetzt auf dich auf. Schlaf, mein Sohn!« Er legte Holz nach.
»Was macht der Schnee?«
»Ach, du bist einer von denen, die immer alles ganz genau wissen wollen? Also, gut: Es schneit nicht mehr. Der Himmel ist klar. Wenn dein Fieber sinkt, können wir weiter, zu meinem Hospiz. Dort werde ich dich gesund pflegen. Und jetzt schlaf endlich!«
*
Herisau, März 1246
Nie hätte er geglaubt, dass es ihm jemals so schwer fallen könnte, die vorgeschriebenen Waschungen einzuhalten, und vor allem die fünf täglichen Gebete, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren. Die Handlungen, die er verrichtet hatte, so lange er zurückdenken konnte, gehörten zu ihm wie das dichte Haar oder die bräunliche Haut, die unter der Frühlingssonne allmählich wieder dunkler wurde.
Es war nicht Pilars Anwesenheit, die ihn daran hinderte.
Tariq glaubte manchmal sogar, ihre leeren Augen fast mit- leidig auf sich gerichtet zu sehen, wenn eigentlich Gebetszeit war, er aber stattdessen Walli zum Weiterreiten antrieb, weil sie eine schwierige Wegstrecke bis zum Abend hinter sich bringen wollten.
Andere Male begegneten ihnen zur vorgeschriebenen Zeit Reisende, und er versuchte alles zu vermeiden, damit ihre Neugierde nicht in Ablehnung umschlug. Ohnehin wurden es immer mehr Pilger, die ihre Wege kreuzten, als sei Einsiedeln ein Magnet, der alle anzog. Manche gingen trotz der frühen Jahreszeit sogar barfuß; andere wirkten so zerlumpt und verlaust, als seien sie schon Ewigkeiten unterwegs. Er musterte sie nur kurz, bemüht, ihnen nicht zu nah zu kommen, und wünschte sich, dass sie ähnlich mit ihnen verfuhren. Vielleicht waren Pilar und er deshalb auf der ganzen Fahrt mit niemandem richtig ins Gespräch gekommen; ihre Unterhaltungen hatten sich auf die notwendigen Auskünf t e über Wegverlauf und Unterkunft beschränkt.
Tariq sagte sich, dass er nur so handeln könne. Aber er spürte, dass die ungewohnte Nachlässigkeit etwas in ihm veränderte. Seit sie den Bodensee hinter sich gelassen hatten und Einsiedeln immer näher rückte, war er unausgeglichener als gewöhnlich. Die rituellen Handlungen, die ihm Halt verliehen, fehlten ihm; er brauste schneller auf, erwachte verstimmt und begann, sich über Kleinigkeiten zu ärgern.
Natürlich war Pilar dieser Stimmungswechsel nicht entgangen. Als sie am Abend zuvor Halt gemacht hatten, um auf einem schmutzigen Kirchenboden zu nächtigen, hatte sie ihre warme Hand auf seinen Arm gelegt.
»Was ist es, das dich bedrückt, Tariq?«
»Nichts«, hatte er schnell geantwortet. »Ich bin nur müde.«
»Du hast seit Tagen nicht mehr gelacht. Bist du etwa böse auf mich?«
Tariq zog die
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