Strasse der Sterne
unbekannte Kräuter herausschmeckte. Inzwischen verstand sie sogar ein paar Brocken Französisch. Genug, wie sie hoffte, um sich weiter in Richtung Pyrenäen durchzuschlagen.
Die beiden hatten geweint, als sie ihre Sachen packte. Weder Gebete noch die Reisigbündel, die man hier zum Schutz gegen böse Geister gegen die Türen lehnte, hatten etwas dagegen ausrichten können: Sohn, Schwiegertochter und drei der kleinen Enkel waren gegen Winterende krank geworden und schließlich am Scharlach gestorben.
Jetzt gingen überall die grünen Saaten auf. Wenn der Sommer hielt, was der Frühling versprach, konnte es ein gutes Jahr werden. Aber der Gutsherr war streng. Wie sollten sie ohne fremde Hilfe den Zehnten erwirtschaften?
Die Alten hatten sie ehrlich gedauert; Moira aber wusste, dass sie sich dennoch richtig entschieden hatte. Man musste Erwartungen mit der Wurzel ausreißen, wenn man sie in den falschen Boden gepflanzt hatte. Schließlich hatte sie Trier nicht verlassen, um für den Rest ihres Lebens irgendwo zwischen Dijon und Vezelay fremde Ställe auszumisten.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder unbehaust zu sein, wenngleich die Landschaft, die sie durchwanderte, mit ihren Laubwäldern, Wiesen und frisch bestellten Feldern fruchtbar und einladend erschien wie ein großer Garten. Schlüsselblumen, Hundsveilchen und Hahnenfuß standen am Wegrand; das leuchtende Gelb des Rapses breitete sich aus. In der Wärme des Mittags atmete sie leicht und frei.
Nun aber, wo es dunkel wurde, drang die Nacht ihr in Nase, Hals und Bauch. Moira spürte eine Schärfe, die sie zunächst erschreckte, dann jedoch annehmen konnte. Kein Mond stand am Himmel. Es war die Nacht seiner Geburt - Neumond.
Sie kühlte ihre Füße im feuchten Gras und besänftigte das Pochen der verletzten Ferse mit einem Moosverband. Die Dunkelheit ließ eine seltsam aufgeregte Stimmung in ihr aufsteigen. Von einem nahen Waldstück hörte sie Käuzchenrufe und später ein Schlagen der Nachtigall, das alsbald wieder verstummte. Sie war froh über den Umhang, der sie wärmte. Alles um sie herum schien in Bewegung. Sie war im Land der tausend Quellen angelangt, wie die Leute hier sagten; ihre Mutter, die sie von klein auf mit Märchen und Geschichten über Elfen, Feen und Wassergeister gefüttert hatte, hätte ihre Freude daran gehabt. Am Morgen würde sicher wieder Nebel über dem schmalen Wasserlauf hängen, aus dem sie ihre Kürbisflasche gefüllt hatte, und die Zweige wie ein Gespinst umhüllen.
Die Obstbäume waren bereits verblüht. Bald schon würden die Kirschen reif sein, je weiter sie in Richtung Süden vorankam. Marie lebte nicht mehr, aber sie - Moira - würde die Kirschen essen, auf die ihre Tochter so begierig gewesen war.
Und plötzlich löste sich ein Schrei aus ihrer Brust. Mit den Fäusten schlug sie auf den Boden ein, bis sie völlig erschöpft war. Wie ein reinigendes Gewitter entlud es sich in ihr, diese schmerzhafte Mischung aus Liebe, Schuld, Wehmut und tiefem Entsetzen.
Dann war es vorüber. Moira verspürte kein Verlangen, weiter zu weinen. Sie fühlte sich leicht.
Vielleicht ist es das, was man Hoffnung nennt, dachte sie. Sie versuchte, es sich im Sitzen einigermaßen bequem zu machen, denn an Schlaf war so schnell nicht zu denken. Sie tastete nach den eingenähten Münzen. Vom Furt- und Brückenzoll war sie als Pilgerin befreit. Aber sie brauchte dringend neuen Proviant. Vorsichtig führ sie mit dem Zeigefinger hinein, um ein paar von den Geldstücken herauszufischen. In Vezelay, der nächsten Stadt auf ihrer Route, würde sie einen der Wechslertische am Straßenrand aufsuchen und noch vorsichtiger sein als bisher. Ein dicker Mann mit roten Pusteln hatte sie in Toul schon kräftig übers Ohr gehauen, indem er ihr wertlose Geldstücke angedreht hatte.
Ihr anfänglicher Ärger war rasch verflogen und sie hatte über die eigene Dummheit lachen müssen - haltlos, wie seit langem nicht mehr. Sie spürte, dass sie innerlich ganz leer dabei wurde. Beinahe, als sei sie all die Jahre so sehr von Gero erfüllt gewesen, dass sie kaum noch Platz für sich selber gefunden hatte. Es hatte nicht einmal geholfen, seine Schuhe zu berühren, als er bereits tot gewesen war. Fast jede Nacht hatte er sie in ihren Träumen heimgesucht und ihr Scheußlichkeiten ins Ohr gewispert, die sie am liebsten niemals gehört hätte.
Seit kurzem jedoch schien es vorüber zu sein.
Wie hatte sie ihm nur solche Macht einräumen können? Hatte sie sich
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