Strasse der Sterne
gefügt, weil er ihr Mann war? Sie war sehr jung gewesen, als sie ihm begegnet war, aber genügte das als Grund?
Du musst bereit sein, auch mit denen zu kämpfen, die du liebst, das hatte Mary ihr mit auf den Weg gegeben. War es Schwäche, die sie in ihrer Ehe hatte aufgeben lassen? Angst? Feigheit?
Noch wusste sie keine schlüssige Antwort darauf.
Sie rollte sich auf einem Haufen trockenen Laubs zusammen und presste ihr Gesicht gegen den kratzigen Stoff.
Es dämmerte, als sie wieder erwachte. In ihrer Nähe schlief ein Mann. Flache Schnarchtöne drangen aus seinem halb geöffneten Mund.
Sie erhob sich leise. Den rechten Stiefel anzuziehen war eine Tortur, die sie nur mit zusammengebissenen Zähnen ertrug. Sie hatte sich noch im Bach waschen wollen, und dem Unbekannten, der vor Schmutz zu starren schien, hätte eine Reinigung erst recht nicht geschadet, aber jetzt erschien es ihr sicherer, sich so schnell wie möglich davonzumachen - und wenn sie bis zum Marktplatz von Vézelay auf einem Bein hinken musste.
Sie war zu ungestüm gewesen. Unter ihrer Ferse knackte ein trockener Ast. Er schlug die Augen auf.
»Du willst schon los?«, sagte er gähnend. »Dabei geht doch gerade erst die Sonne auf. Ich bin Hans.« Er richtete sich auf. »Hans aus Cochem.«
Moira brachte kein Wort heraus. Verfolgte er sie schon länger? Der Stock lag zu weit entfernt, aber sie tastete nach dem Messer im Gürtel.
»Jean«, versuchte er sein Glück aufs neue, als sie stumm blieb, und deutete auf seine eingefallene Brust. »Française?« Jetzt wies sein krummer Finger in ihre Richtung.
Er hatte braune Kinderaugen, die fast flehend wirkten, und die wunderlichsten Zähne, die sie jemals gesehen hatte. Kreuz und quer saßen sie in seinem Gebiss, wuchsen an der einen Stelle halb übereinander, um an der anderen große Lücken frei zu lassen. Sein Mund hatte Ähnlichkeit mit der Schnauze eines Nagetiers. Der Schopf, der wie eine eng anliegende schwarze Kappe den Schädel bedeckte, wucherte in einzelnen Fellinseln bis weit ins Gesicht. Gefährlich sah er nicht wirklich aus, dieser Kauz aus Cochem, eher wie eine missglückte Kreuzung aus Mensch und Fabelwesen.
»Du kannst ja richtig lachen«, wechselte er zurück ins Deutsche und grinste breit. »Dann bist du gar keine erschreckte Maus mehr. Was ist mit deinem Fuß? Vertreten?«
Moira war noch immer auf der Hut. Hinter seiner Drolligkeit schien er ein scharfer Beobachter zu sein.
»Wieso hast du dich heimlich wie ein Dieb in der Dunkelheit angeschlichen?«, sagte sie scharf.
»Dieb, Dieb!«, äffte er sie nach. »Sollte ich dich vielleicht mit einem Fußtritt wecken? Und das hier? Keine Augen im Kopf?« Er trug einen schmutzstarrenden, vielfach geflickten Pilgerumhang, hatte wie sie Tasche und Stab dabei. Sie erkannte es, als er sich schwerfällig erhob. »Bist jetzt eine Wallerin oder nicht? Na also! Ich bin auch auf dem Weg zum heiligen Jakob. Da dacht ich, wir könnten vielleicht ein Stück gemeinsam gehen. Hast dich wund gelaufen? Bestimmt die Stiefel. Es sind doch immer wieder die Stiefel!«
Moira starrte auf die Eisenkette, die seine Knöchel verband.
»Ach, das«, sagte Hans beiläufig und ließ die rostigen Fesseln rasseln. »Vielleicht fallen sie unterwegs einfach ab. Sonst kommen sie erst wieder runter, nachdem ich Jakobus in Galicien guten Tag gesagt habe.« Sein Blick glitt ins Nichts. »Ein Gelübde, du verstehst? Irgendwann verrat ich dir vielleicht mehr darüber.«
»Aber das muss doch fürchterlich wehtun«, sagte Moira. »Wie kannst du damit überhaupt gehen?«
Er zuckte die Achseln.
»Schafgarbenstängel und Kamillenblüten, wenn es gar zu arg wird. Und dir empfehl ich einen Umschlag aus zerdrückten Ringelblumen. Kann wahre Wunder wirken!« Sein Gesicht legte sich in kummervolle Falten. Irgendwie gelang es ihm, die Haut so zu verschieben, dass es zum Lachen reizte. »Man gewöhnt sich an alles. Hunger allerdings kann ich nicht ausstehen. Wenn mein Magen knurrt, muss ich ihn sofort füttern, und wenn es nur mit einem gebratenen Igelchen ist. Was ist mit dir? Kleines Morgenmahl gefällig? Bist ja schon ganz spitz um die Nase!«
Umständlich kramte er in seinem Beutel, um ihr schließlich ein Stück Käse entgegenzustrecken. Moira rührte keinen Finger. Bevor sie dieses schmierige Etwas annahm, kaute sie lieber Gräser und Wurzeln.
»Greif ruhig zu!«, ermunterte er sie grinsend. »Heißt es nicht immer, Pilger sollten alles miteinander teilen?« Sein Lachen
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