Strasse der Sterne
Körper. Angesichts der roten Berge und des weiten Himmels über ihm kam sein innerer Aufruhr langsam zur Ruhe. Und während er dem Flug der Gänsegeier zusah, die mit weiten Schwingen das Felsenkloster umkreisten, erinnerte er sich wieder, weshalb er eigentlich hierher gekommen war.
Seine zahlreichen Versuche, das Kloster zu erkunden, erwiesen sich allerdings als schwieriger, als er befürchtet hatte. Der Schatten des Abtes schien auf den alten Mauern zu liegen, und selbst in der hellen Oberkirche spürte er ein Frösteln. Er sehnte sich nach Sor Angelitas hellem Garten, den Gesprächen mit ihr, der einfachen Art, mit der sie ihm ihre geliebten Pflanzen nahe gebracht hatte. Diesen kalten, unfreundlichen Ort hätte er lieber heute als morgen verlassen.
Aber es gab etwas, das ihn daran hinderte - sein Versprechen, das Gelübde, das er geleistet hatte. Er spürte, das Ziel war vor ihm, zum Greifen nah. So nah vielleicht sogar, dass er es bislang übersehen hatte.
*
Der Weg schien nicht enden zu wollen und die hohen roten Berge, gleichzeitig Brücke und Barriere zwischen Frankreich und Spanien, waren noch weit entfernt. Nachdem sie das Zentralmassiv bewältigt hatten, empfing die Pilger im Lottal eine lieblichere Landschaft. Pilar genoss die warme Sonne auf ihrer Haut und wurde nicht müde, sich von Camino alles beschreiben zu lassen, woran sie vorbeizogen.
Tariq hielt sich lange zurück, bevor er schließlich zu murren begann. Er wählte eine Gelegenheit, wo sie allein waren. Camino hatte sich angeboten, ein Stück vorauszugehen, um den Weg zu erkunden.
»Früher haben dir meine Augen gereicht«, sagte er bitter. »Und meine Zunge. Aber seitdem dieser - alte Mann«, er spie das Wort aus, »mit uns reist, sind sie dir offenbar nicht mehr genug. Ich mag nicht, wie du ihn ansiehst. Und erst recht nicht, wie sehnsüchtig deine Stimme dabei klingt.«
»Das bildest du dir ein«, widersprach sie. »Und Camino ist nicht alt. Es ist nur so, dass ...«
»... er dir vollkommen den Kopf verdreht hat. Aber ich warne dich, Pilar: Er ist nicht gut für dich. Und er wird dir kein Glück bringen. Denn dieser Mann liebt dich nicht.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte sie leise.
»Weil sein Herz anderswo ist. Vielleicht bei Gott, vielleicht bei einer Frau, was weiß ich? Aber jedenfalls nicht bei dir. Das spüre ich.«
Es tat ihm weh, dass ihr Gesicht sich verschloss. Aber es hatte keinen Sinn, sie zu schonen. Er versicherte sich, dass das Vermächtnis an Ort und Stelle war, dann kam er wieder zurück. Seit dem Überfall schlief er darauf, obwohl er manchmal das Gefühl hatte, dass es unter ihm brannte.
»Dann spürst du etwas anderes als ich. Du magst ihn eben nicht«, sagte sie heftig. »Schon von Anfang an. Obwohl er dir keinerlei Grund dazu gegeben hat. Ohne ihn wären wir tot. Hast du vergessen, wie mutig er die Räuber vertrieben hat?«
»Er ist klug und tapfer. Aber kein ehrlicher Mann. Er verbirgt etwas. Und das macht mir Sorgen.«
»Warum fragst du ihn nicht einfach danach?«, sagte Pilar spitz.
Tariq berührte ihren Arm. »Beantwortet er deine Fragen, mi niña?«
In Conques, muschelförmig einsam in einer dunklen Waldschlucht gelegen, trafen sie auf so viele Pilger, dass sie keinen Platz mehr in der kleinen Herberge bekamen und draußen schlafen mussten. Ein Platzregen mitten in der Nacht weckte sie. Schließlich fanden sie ein trockenes Plätzchen auf dem voll belegten Kirchenboden. Während Tariq am anderen Morgen auf Nahrungssuche ging, führte Camino Pilar zum Portal.
»Das muss ich dir zeigen!«, erklärte er. »Etwas Schöneres habe ich kaum je gesehen. Es ist das Jüngste Gericht. Rechts sind alle Schrecken dargestellt, die die Sünder erwarten. Auf der linken Seite findest du die Auserwählten. In der Mitte thront Christus, der Weltenrichter ...«
»Es ist genug«, sagte sie plötzlich und wandte sich ab. Vorsichtig tastete sie sich mit Hilfe ihres Stocks die Stufen hinab.
Er lief ihr hinterher.
»Was ist, Pilar? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein«, sagte sie, ohne stehen zu bleiben. »Vielleicht ist es ja gerade das. Der Fehler liegt bei mir. Du kannst mir noch so viel erzählen und beschreiben - ich kann es nicht sehen! Ich werde immer ein Krüppel sein. Du verschwendest nur deine Zeit.«
»So mutlos auf einmal?« Camino legte die Finger unter ihr Kinn und hob das Gesicht sanft an. »Aber ich kann dich verstehen, Pilar. Ich war auch ...«
»Gar nichts kannst du!«, unterbrach sie
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