Strasse der Sterne
ihn heftig. »Und komm mir jetzt bloß nicht wieder mit deinen Geschichten, dass alles besser wird, wenn man älter wird. Ich bin jetzt jung. Ich möchte jetzt leben!«
Tariq spürte sofort, dass etwas vorgefallen war, als er zurückkehrte. Camino stand ein Stück abseits, während Pilar ihr Gesicht in Wallis Mähne vergraben hatte.
»Was ist passiert?«, fragte er Pilar. »Hat er dich beleidigt? Oder dir wehgetan? Soll ich ihn mir einmal vornehmen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Versteht mich denn niemand?«, sagte sie leise. »Lasst mich einfach in Frieden.«
*
Segovia, Juni 1246
Sobald sie allein war, holte sie den grünen Stein heraus; mal hielt sie ihn ins grelle Sonnenlicht, öfter noch in den milchigen Schein des Mondes. Es machte ihr Mut, ihn in der geschlossenen Faust zu halten, bis er langsam warm wurde. Allein ihn zu berühren gab ihr Kraft, was sie dringend nötig hatte. Denn immer noch überfielen Estrella Zweifel, sobald sie an Felipe dachte.
Manchmal tat es ihr inzwischen beinahe Leid, wie sie sich ihm gegenüber verhalten hatte. Ihre Beschimpfungen vor dem jüdischen Waffenmeister, bis Elias ihr den Stein zurückgegeben hatte. Felipes Gesicht, das dabei alle Farbe verloren hatte. Und ihre Einsamkeit seitdem. Felipe war nicht Ari. Niemand konnte Ari das Wasser reichen. Aber Felipe hatte sie gern gehabt, auf seine seltsame, grobe Weise, die ihn vor jeder Zärtlichkeit erschrecken ließ.
Seit sie wieder unterwegs war, in diesem schattenlosen Kastilien, das jetzt schon glühte, obwohl es noch nicht richtig Sommer war, vermisste sie ihn manchmal sogar. Seine Stimme fehlte ihr, die Arme, die sie umschlungen hatten, sogar seine stachlige Brust, deretwegen sie ihn stets verhöhnt hatte.
Es war nichts Besseres nachgekommen.
Ein obskurer Pferdehändler in der Nähe von Madrid, der sie abschätzig begutachtet hatte wie eines seiner Rösser. Ein Metzger in Sangüesa, dessen blutige Pranken sie noch furcht- einflößender fand als die Burg, die über der Stadt thronte. Vor beiden hatte sie schnell Reißaus genommen. Und dieses Händlerehepaar nebst Dienerschaft, das sie schließlich in Segovia getroffen hatte.
Keine üble Stadt, um Geschäfte zu machen.
Der erste Tag auf dem Markt hatte verheißungsvoll begonnen. Die Leute schienen neugierig auf ihre Wahrsagungen. Nichts war hier düster und ernst wie in Toledo; alles schien heiterer, beflügelt von einer Lebenslust, die auch Estrella ansteckte. Überall roch es nach frischem Schweinebraten, den man an langen Spießen röstete; dazu kam der sanfte Schwung der Höhen im Osten der Stadt, die die Luf t rein und klar machten. Zwei Flüsse begrenzten die Oberstadt, wo sie auf dem Markt ihrem Gewerbe nachging, und wenn sie zum Sonnenuntergang mit klingenden Münzen im Gürtel zum alten Aquädukt wanderte, gab es einen Moment, wo sie sich wünschte, zu bleiben.
Am nächsten Morgen begegnete sie dem Ehepaar, mit dem sie seitdem unterwegs war: Juan, ein wohlbeleibter Händler, der unruhig wurde, sobald sich eine Mahlzeit verschob; Teresa, seine Frau, die ihr erstes Kind erwartete, obwohl sie nicht mehr jung war. Schwangere machten Estrella immer unruhig. Laila hatte ihr einige Maßnahmen verraten, um sich vor diesem Zustand zu schützen, und bislang war sie zum Glück davor verschont geblieben.
Das Ehepaar stritt sich ohne Unterlass, heißblütig, fast schon manisch. Keiner war bereit, nachzugeben, und die Gegenwart einer Fremden schien sie in ihrem Kampf nur noch anzustacheln.
Auf der Stelle begehrte Teresa von ihr die Zukunft zu erfahren, und seitdem Estrella ihr zum ersten Mal die Karten gelegt hatte, entwickelte sie eine regelrechte Besessenheit danach. »Wird mein Kind leben? Und mein Mann mich immer lieben? Werden wir reiche Leute? Wartet der Himmel auf uns?«
Zuerst war Estrella geschmeichelt, später amüsiert, dann nur noch angewidert.
»Die Karten sind nicht dazu da, dass man sie tagtäglich befragt«, sagte sie mürrisch, nachdem ihr beim besten Willen keine neue Version des wunderbaren Schicksals dieses Ungeborenen einfallen wollte. Über seinen Erzeuger brachte sie schon lange kein gutes Wort mehr heraus. »Wer sie herausfordert, fordert auch das Schicksal heraus.«
»Aber ich muss doch wissen, wie es meinem kleinen Vasco ergehen wird. Meinst du, es wird ihm schaden, dass ich heute Blähungen habe?«
Wortlos wandte sich Estrella ab. Sie hätte ihr einiges erzählen können. Zum Beispiel, dass Juan jede Gelegenheit nutzte, um sie
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