Straße der Toten
mehr.
Dann fing er an zu singen. Hirem sagte, er habe kein Wort davon verstanden, obwohl er so einige Indianersprachen und auch das Cajun-Französisch kennt, aber das war etwas anderes. Er meinte, vielleicht war es etwas Afrikanisches. Er gab ein paar Wörter davon wieder, an die er sich erinnerte und zu denen er mich auch befragte, weil sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gingen. Und er sagte noch, sobald der Indianer diese Worte gesprochen hatte, frischte der Wind auf, und der Regen wurde noch schlimmer, und es donnerte heftig.
Es waren keine Indianerwörter. Woher sie stammen, weiß ich nicht, aber ich habe sie wiedererkannt. Sie stehen in einigen Büchern, die ich hier habe. Das NECRONOMICON, DE VERMIS MYSTERIIS und UNAUSSPRECHLICHE KULTE. Im Wesentlichen beziehen sich diese Wörter auf etwas, das zu verschiedenen Zeiten als Wendigo, als Vampir, als Ghul oder als Nosferatu bezeichnet wurde. Oder manchmal auf eine Mischform aus all diesen Dingen. Laut meinen Büchern kann ein Zauberer mit Hilfe dieser Wörter einen Dämon von seinem Körper Besitz ergreifen lassen, um für etwas Rache zu nehmen. Der Dämon kennt nur ein Ziel. Rache. Der tote Körper, in dem er weilt, verfügt über magische Kräfte, die über die eines Menschen hinausgehen, während die Seele des Toten jedoch dazu verdammt ist, in die Hölle zu fahren.
Dann brach der Bann, so erzählte Hirem, und Webb sprang vor und versetzte dem Pferd einen Klaps auf die Flanke, und es preschte davon, und der Indianer baumelte am Strang. Er zappelte kaum mit den Füßen, sondern war sofort tot. Die Grillen verstummten, das Unwetter legte sich. Dann setzte der Sturm erneut ein, Äste brachen und wurden davongeweht, Laub wurde aufgewirbelt, und es schüttete wie aus Kübeln. Blitze überzogen den Himmel, einer davon traf den Indianer, und es wurde blendend hell.
Als ihre Augen sich von dem grellen Licht erholt hatten, sahen sie, dass der Indianer weg war. Der Blitz hatte ihn in die Hölle befördert. Da hing bloß noch das qualmende Seil, die Schlinge schaukelte im Wind, und eine große Spinne – oder etwas, das wie eine Spinne aussah – krabbelte am Seil hoch in den Baum und war verschwunden.
Da wusste Hirem, dass sie es hier mit etwas anderem zu tun hatten als nur mit einem verrückten Indianer. Denn diese Spinne hatte genauso ausgesehen wie ein Geschwulst auf der Brust des Indianers. Das hatte Hirem bemerkt, als er geholfen hatte, den Indianer auf den Wagen zu schleudern, und dabei das Hemd des Mannes zerrissen war. Zuerst hatte er gedacht, da säße eine große Spinne, aber dann konnte er sehen, dass es ein Geburtsmal war: wulstige behaarte Haut in der Form einer großen Spinne. Oder, wie Hirem es ausdrückte, »etwas, das wie eine Spinne aussah«.
Als alles vorbei war, kam Hirem zu mir, um zu reden. Seine Schuldgefühle machten ihm schwer zu schaffen. Er war halb besoffen gewesen und hatte sich von dem Mob mitreißen lassen. Später haben mir andere ungefähr das Gleiche erzählt. Das soll keine Entschuldigung sein, aber es erklärt vielleicht manches.
Hirem berichtete mir, sie hätten die Leiche der Negerin irgendwo am Waldrand neben dem Postkutschenweg aus dem Wagen geworfen, und dass ihm das auf der Seele lastete. Zwar konnte man nichts mehr für sie und ihren Mann tun, aber er wollte zumindest dafür sorgen, dass sie anständig begraben wurde.
Also spannten wir zwei Pferde vor einen Karren und fuhren zu der Stelle raus. Das Unwetter tobte immer noch. Wir sahen kaum die Hand vor Augen. Es dauerte lange, bis wir die Leiche endlich fanden. Sie war gehäutet worden, Reverend. Wie ein Eichhörnchen. Wir hatten eine alte Kiste mitgebracht, in die legten wir sie rein und schleppten sie in den Wald und vergruben sie. Das war eine Heidenarbeit, bei dem strömenden Regen, und wir mussten einen Haufen dämlicher Wurzeln durchhacken, um das Loch zu graben. Aber wir wollten, dass ihre Leiche sicher unter der Erde war. Denn wenn Caleb genug getrunken hatte, mochte er vielleicht auf die dumme Idee kommen, die Leiche auszubuddeln und irgendwo hier im Ort aufzuhängen. Hirem sagte mir, dass Caleb auch schon ihre Ohren auf einen Lederriemen aufgefädelt hätte, dass er den Riemen ständig um den Hals tragen würde und überall rumerzählte, er würde sich aus ihren Brüsten noch einen Tabaksbeutel machen.
Zu guter Letzt hatten wir es geschafft und machten uns auf den Rückweg in die Stadt, wo ich dann erfuhr, dass Glenda noch lebte.
Das Heilmittel des Indianers
Weitere Kostenlose Bücher