Straße der Toten
nur normal. Aber du glaubst, du musst Mama auch über den Tod hinaus treu bleiben, und diese Träume geben dir das Gefühl, du hättest sie betrogen, ihr Andenken beschmutzt. Dein letzter Traum, der mit der Leiche, verbindet dann diese beiden Schuldgefühle miteinander.«
Doc bekam ein rotes Gesicht. »Das mag wohl so sein, ja.«
»Sie haben auch ein schlechtes Gewissen, weil Sie auf die Heilkünste des Indianers neidisch waren«, sagte der Reverend. »Vielleicht sind Sie tief in Ihrem Innern der Ansicht, er habe verdient, was mit ihm geschehen ist. Aber solche Gedanken und Gefühle haben wir alle in gewissem Maße. Sie quälen sich wegen nichts und wieder nichts, Doc.«
Und bei sich dachte der Reverend: Ich dagegen habe gute Gründe, ein schlechtes Gewissen zu haben.
»Das erklärt aber nicht, warum sich die Halswunden bei Foster und Nolan so ähnlich sind. Und was mit dem Mann auf der Straße passiert ist.«
»Also gut, Doc. Sagen wir mal, das alles wäre wahr. Was sollen wir dann tun?«
»Da bin ich mir nicht sicher«, sagte Doc. »Allerdings bin ich überzeugt davon, dass hier mehr am Werk ist als nur meine Phantasie oder meine Schuldgefühle. Und zwar tatsächlich ein Fluch. Und wenn wir herausfinden wollen, wie wir damit fertig werden, dann liegt die Antwort« – Doc zeigte auf seine Bibliothek – »irgendwo in diesen Büchern.«
Eine Zeit lang saßen sie alle still da.
»Teufel auch«, beendete Doc ihr Schweigen. »Was bin ich doch für ein alter Narr! Ihr habt natürlich ganz recht.«
Er schenkte sich einen Schluck Whisky ein und kippte ihn hinunter. »Das spielt sich alles nur in meinem Kopf ab. Alles.«
Zwei
Der Reverend ging mit Abby die Gasse entlang, die zur Straße führte.
»Sie dürfen Dad diesen ganzen Quatsch nicht übel nehmen«, sagte Abby. »Seit Mamas Tod ist er wie besessen davon.«
»Ich nehme ihm nichts übel. Ihr Vater ist ein faszinierender Mensch.« Dass Doc auf der richtigen Spur sein könnte, behielt er lieber für sich, damit Abby ihn nicht auch noch für diesen Aberglauben belächelte.
»Es verstößt vielleicht ein bisschen gegen die guten Sitten, Jeb, aber ich möchte gerne, dass wir uns wiedersehen.«
»Das werden wir.«
Sie nahm seine Hand. Im nächsten Augenblick lag sie in seinen Armen und presste ihre Lippen auf seine. Es fühlte sich sogar noch besser an, als er sich vorgestellt hatte.
Als sie sich voneinander lösten, sah er ein bisschen verlegen drein. Und verwirrt.
»Schadet das deinem guten Ruf, Jeb?«
»Ein Geistlicher sollte nicht in einer stillen Gasse schöne Frauen küssen.«
Sie lächelte. »Vergiss nicht, du hast versprochen, dass wir uns wiedersehen.«
»Morgen.« Sie küssten sich noch einmal, dann verabschiedete sich der Reverend ziemlich hastig von ihr.
Drei
Doc hatte mitbekommen, dass Abby und der Reverend Gefallen aneinander fanden, und es machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, er war froh darüber. Der Reverend beeindruckte ihn und schien ein guter Mensch zu sein, auch wenn er offenbar etwas mit sich herumschleppte, was schwer auf ihm lastete. Was das war, konnte Doc nicht wissen, aber für dergleichen hatte er Verständnis. Er hatte ebenfalls sein Päckchen zu tragen, wegen dieser Sache mit dem Indianer.
Aber sein schlechtes Gewissen erklärte nicht alles, davon war er überzeugt. Für ihn stand weiterhin fest: Mud Creek war verflucht.
An diesem Nachmittag ging Doc nicht in seine Praxis. Er hatte keine Patienten und auch sonst nichts Dringendes zu tun. Er durchforstete seine Bücher und machte sich Notizen. Was er fand, war äußerst beunruhigend.
Vier
Der Reverend ging zurück auf sein Zimmer und schlug seine Bibel auf. Das Buch der Offenbarung.
Die Blutstropfen waren noch da. Er hatte sie nicht nur geträumt.
Er trat ans Fenster und sah hinaus. Allmählich wurde es Abend. Noch eine Stunde vielleicht.
Es setzte sich aufs Bett und reinigte den Revolver.
Dann lud er ihn mit sechs Patronen und vergewisserte sich, dass seine Manteltaschen voller Munition waren. Warum, wusste er nicht so recht.
Fünf
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hatte Joe Bob Rhine seine Schmiede verlassen. Und David noch einige Dinge zu tun gegeben, zum Beispiel altes Zaumzeug auf den Heuboden hochzuschaffen.
Normalerweise war der Heuboden für David ein Ort wie jeder andere. Doch in den letzten paar Tagen war ihm, ohne dass es ihm bis jetzt überhaupt bewusst geworden wäre, nicht so ganz wohl bei dem Gedanken, da raufsteigen zu müssen.
Er ertappte sich
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