Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
leidenschaftlich Feiernden waren bereits dazu übergegangen, Gossenlieder zu schmettern. Ich bahnte mir den Weg durch die torkelnde Menge und erkundigte mich immer wieder nach der Fitzpatrick’s Bar. Niemand schien von ihr gehört zu haben. Allerdings waren viele der Leute, an die ich geriet, wohl nicht mal mehr in der Lage, sich selbst in einem Raum voller Spiegel zu erkennen.
Schließlich stieß ich per Zufall auf die Bar. Wie alle Bars in Iowa City an einem Freitagabend war sie voll bis unters Dach, und jeder dort sah aus, als wäre er vierzehn Jahre alt. Nur einer nicht – mein Freund John Horner. Jedes seiner fünfunddreißig
Lebensjahre stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nirgends fühlt man sich so schnell vor der Zeit gealtert wie in einer Collegestadt. Ich setzte mich zu ihm an die Bar. Er hatte sich nicht sehr verändert. Inzwischen war er Pharmazeut und ein respektables Mitglied der Gesellschaft, aber noch immer blitzte eine Spur von Wildheit in seinen Augen. Seinerzeit gehörte er zu den engagiertesten Drogenkonsumenten der Szene. Obwohl er es immer hartnäckig geleugnet hatte, wusste jeder, dass er sich nur aus einem Grund für das Studium der Pharmazie entschieden hatte: um in der Lage zu sein, exotische Mischungen halluzinogener Drogen zu kreieren. Wir waren seit Ewigkeiten befreundet, mindestens seit der ersten Klasse. Wir grinsten uns breit an, schüttelten uns die Hände und versuchten, uns zu unterhalten, doch es war so laut, dass wir nur zusehen konnten, wie sich der Mund des anderen bewegte. Bald gaben wir es auf, tranken stattdessen schweigend unser Bier, grinsten uns dumm an, wie man das so tut, wenn man sich jahrelang nicht gesehen hat, und beobachteten die Leute um uns herum. Ich kam nicht darüber hinweg, wie jung und frisch sie alle wirkten. Alles an ihnen schien nagelneu und ungebraucht zu sein – ihre Kleidung, ihre Gesichter, ihre Körper. Als wir unsere Bierflaschen geleert hatten, verließen Horner und ich die Bar und gingen zu seinem Auto. Die frische Luft tat gut. Überall standen Leute gegen Gebäude gelehnt und erbrachen sich. »Hast du schon mal so viele kleine Idioten auf einmal gesehen?«, fragte mich Horner rhetorisch.
»Und sie sind alle erst vierzehn Jahre alt«, fügte ich hinzu.
»Physisch sind sie vierzehn Jahre alt«, korrigierte er mich, »aber emotional und intellektuell bewegen sie sich auf dem Niveau von Achtjährigen.«
»Waren wir auch so in diesem Alter?«
»Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Ich glaube nicht. Vielleicht war ich mal so dumm, aber so oberflächlich war ich nie. Diese Kids tragen Hemden mit angeknöpften Kragen und
geben ihr Geld für Schuhe aus. Wenn man sie sieht, könnte man meinen, sie wären auf dem Weg zu einem Osmonds-Konzert. Und sie haben von nichts eine Ahnung. Da unterhältst du dich mit ihnen in einer Bar, und sie wissen nicht mal, wer als Präsident kandidiert. Und von Nicaragua haben sie noch nie was gehört. Es ist beängstigend.« Wir gingen nebeneinander her und dachten darüber nach, wie beängstigend es war. »Aber das ist noch nicht alles«, fügte Horner hinzu. Wir hatten sein Auto erreicht, und ich sah ihn über das Dach hinweg fragend an.
»Das Schlimmste ist, dass sie kein Dope rauchen. Kannst du dir das vorstellen?«
Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Studenten an der University of Iowa, die keine Drogen nahmen – das ist einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Jeder Student hatte seine Gründe, warum er gerade auf diese Universität wollte, und Dope zu rauchen, rangierte bei jedem ganz oben auf der Liste. »Weshalb sind sie dann hier?«
»Sie kümmern sich um ihre Ausbildung «, klärte Horner mich auf und konnte es selbst kaum glauben. »Sie wollen Versicherungskaufleute und Programmierer werden. Das ist ihr sehnlichster Wunsch. Sie wollen eine Menge Geld verdienen, damit sie sich noch mehr teure Schuhe und Madonna-Alben kaufen können. Sie machen mir manchmal wirklich Angst.«
Wir stiegen in sein Auto und fuhren durch dunkle Straßen zu seinem Haus. Unterwegs erläuterte mir Horner, wie sehr sich die Stadt verändert hatte. Als ich Amerika verließ, um nach England zu gehen, lebten jede Menge Hippies in Iowa City. Auch wenn es noch so unwahrscheinlich klingen mag – die University of Iowa, inmitten all der Kornfelder, zählte jahrelang zu den radikalsten Universitäten des Landes und wurde in ihren besten Tagen nur von Berkeley und Columbia an Radikalität übertroffen. Professoren wie Studenten,
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