Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Schrecken wurde mir bewusst, dass wir uns bei unserem nächsten Zusammentreffen vermutlich über Gallensteinoperationen und die jeweiligen Vorzüge der verschiedenen Doppelfenstermarken unterhalten würden. Bei dieser Vorstellung überkam mich eine tiefe Melancholie, die noch nicht verflogen war, als ich den Wagen von seinem Parkplatz in Downtown zurück auf den Highway lenkte.
Ich fuhr über die alte Route 6. Sie war früher die Hauptverkehrsstraße nach Chicago. Seit jedoch die Interstate 80 nur drei Meilen weiter südlich verläuft, ist sie so gut wie ausgestorben. Auf der gesamten Strecke begegnete mir kaum ein Auto. Anderthalb Stunden fuhr ich meiner Wege, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Ich wollte nichts als nach Hause, meine Mom sehen, duschen und für lange, lange Zeit kein Lenkrad mehr anfassen.
In der Morgensonne sah Des Moines wunderschön aus. Die Kuppel des State Capitol glänzte, und die Bäume waren noch voller Farbe. Die Stadt hat sich sehr verändert. In Downtown überragt heute ein modernes Gebäude das andere, und überall plätschern Brunnen. Ich muss schon die Straßenschilder zu Hilfe nehmen, um mich dort noch zurechtzufinden. Dennoch spürte ich, dass dies meine Heimat ist. Und so wird es hoffentlich immer bleiben. Ich fuhr durch die Stadt, glücklich, dort zu sein, und stolz dazuzugehören.
Auf der Grand Avenue, in der Nähe der Gouverneursvilla, erkannte
ich plötzlich meine Mutter im Wagen vor mir. Offenbar hatte sie sich das Auto meiner Schwester geliehen. Ich erkannte sie daran, dass sie sinnlos nach rechts blinkte, während sie geradeaus die Straße entlangfuhr. Im Allgemeinen schaltet meine Mutter den Blinker ein, sobald sie aus der Garage gefahren ist, und lässt ihn dann für den Rest des Tages vor sich hin blinken. Ich habe sie oft darauf aufmerksam gemacht, bis mir schließlich klar wurde, dass die Sache eigentlich von Vorteil ist, denn auf diese Weise sind die übrigen Straßenverkehrsteilnehmer gewarnt, dass sie sich einem Fahrzeug nähern, dessen Fahrer möglicherweise nicht ganz Herr der Lage ist. Ich blieb hinter ihr. An der Thirty-First Street sprang der Blinker von der rechten auf die linke Seite des Wagens über – stimmt, das hatte ich vergessen, von Zeit zu Zeit wechselt sie die Seiten –, um während der letzten Meile die Thirty-First Street hinunter und den Elmwood Drive hinauf bis vor die Haustür fröhlich weiter links zu blinken.
Ich musste ein gutes Stück vom Haus entfernt parken. Trotz meiner kindlichen Ungeduld, meine Mutter wiederzusehen, nahm ich mir noch eine Minute Zeit, um die letzten Einzelheiten der Reise in mein Notizbuch einzutragen – ein Ritual, bei dem ich mir immer sehr wichtig und professionell vorkam. Ich fühlte mich wie der Pilot eines Jumbo-Jets am Ende eines Transatlantikfluges. Es war 10.38 Uhr. Seit ich vor vierunddreißig Tagen zu Hause abgefahren war, hatte ich 6842 Meilen zurückgelegt. Ich machte einen Kringel um diese Zahl, stieg aus dem Wagen, nahm meine Taschen aus dem Kofferraum und ging eilig zum Haus. Meine Mutter war schon drinnen. Ich konnte durch eines der Fenster sehen, wie sie in der Küche ihre Einkäufe auspackte und dabei vor sich hin murmelte. Sie murmelt ständig vor sich hin. Ich öffnete die Hintertür, ließ meine Taschen fallen und rief diese vier amerikanischsten aller Worte: »Hi, Mom, I’m home!«
Sie freute sich sichtlich, mich zu sehen. »Hallo, mein Schatz!«,
sagte sie strahlend und umarmte mich. »Gerade habe ich mich gefragt, wann du dich hier wohl mal wieder blicken lässt. Soll ich dir ein Sandwich machen?«
»Das wär prima«, sagte ich, obwohl ich eigentlich keinen Hunger hatte. Es tat gut, wieder zu Hause zu sein.
Zweiter Teil
WESTEN
20
Ich war auf dem Weg nach Nebraska. Der Staat Nebraska muss der langweiligste aller Staaten sein (ein Satz, von dem ich nur hoffen kann, ihn nicht allzu oft benutzen zu müssen). Verglichen mit Nebraska ist Iowa ein Paradies. Iowa ist wenigstens fruchtbar und grün und besitzt einen Berg. Nebraska ist nichts als ein 75 000 Quadratmeilen großes, kahles Stück Erde. Mitten durch den Staat fließt der Platte River, der zeitweise auf eine Breite von zwei, drei Meilen anschwillt. Er beeindruckt jedoch nur so lange, bis man merkt, dass er ganze zehn Zentimeter tief ist. Man könnte ihn in einem Rollstuhl durchqueren. In einer so vollkommen flachen Landschaft liegt der Platte einfach nur da wie ein über einen Tisch verschüttetes Getränk. Und er ist noch das
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