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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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kalten Oktoberluft zu sitzen und durch ihren dampfenden Atem das Footballspiel zwischen den Hooterville High Blue Devils und Kraut City zu verfolgen, das mit einem triumphalen Sieg der Heimmannschaft enden würde. Drei der Touchdowns würde Merle Jr., der Sohn des Farmers, erzielen, woraufhin sich Merle Senior anschließend in Ed’s Tavern von der ganzen Gemeinde für die Tüchtigkeit seines Sohnes feiern lassen würde (zwei Bier, niemals mehr). Dann wäre es Zeit, nach Hause zu fahren und zu Bett zu gehen, denn am nächsten Morgen würde er in aller Frühe aufstehen und mit seinen besten Freunden, Ed, Art und Wally, in der frostigen Morgendämmerung zur Rotwildjagd aufbrechen. Gemeinsam würden sie durch die brachliegenden Felder stapfen und die gute Luft und ihr Beisammensein genießen. Plötzlich packte mich ein ungeheurer Neid auf diese Leute und ihre bescheidene Lebensweise. Es muss wunderbar sein, an einem sicheren und zeitlosen Ort zu leben, wo man jeden kennt und von jedem gekannt
wird und wo sich einer auf den anderen verlassen kann. Ich beneidete sie um ihren Gemeinschaftssinn, um ihre Footballspiele, um ihre Basare und ihre geselligen Abende in der Kirchengemeinde. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, mich über sie lustig gemacht zu haben. Es waren gute Leute.
    Ich fuhr durch die dichte Schwärze, vorbei an Millville, New Vienna, Cascade, Scotch Grove. Ab und zu strahlten die gelb erleuchteten Fenster eines entfernten Bauernhauses warm und einladend zu mir herüber. Manchmal erkannte ich von weitem eine größere Stadt, aus der eine weitaus stärkere Lichtquelle durch die Dunkelheit drang – das Footballstadion der Highschool, in dem gerade das Spiel der Woche in vollem Gange war. Diese Footballstadien erhellen die Nacht und sind meilenweit sichtbar. Hatte ich eine dieser Städte dann erreicht, waren die Straßen wie leer gefegt. All ihre Bewohner sahen sich das Spiel an. Abgesehen von einem Teenager, der einsam und verlassen im Dairy Queen hinterm Tresen stand und den großen Ansturm nach Spielende erwartete, war jedermann im Footballstadion. In Iowa könnte man während eines Footballspiels der Highschools mit einem Konvoi von Lastwagen anrücken und die Stadt ausplündern, man könnte die Bank aufsprengen und das Geld in Schubkarren abtransportieren, und niemand würde es merken. Aber auf solche Ideen kommt hier niemand, denn im ländlichen Iowa gibt es keine Kriminalität. In diesen Gegenden gilt es als Vergehen, das freitägliche Footballspiel zu versäumen. Schwerwiegendere Verbrechen finden nur im Fernsehen und in den Zeitungen statt und in einem weit entfernten, halb mystischen Land mit Namen The Big City.
    Ursprünglich wollte ich bis Des Moines durchfahren, doch ich beschloss spontan, in Iowa City Zwischenstation zu machen. Iowa City ist eine Collegestadt, Sitz der University of Iowa, und ich hatte noch ein paar Freunde dort – Leute, die das College besucht hatten und später keine Veranlassung sahen weiterzuziehen. Als ich die Stadt erreicht hatte, war es fast zehn Uhr, und
noch immer tummelten sich zechende Studenten in den Straßen. Aus einer Telefonzelle rief ich meinen alten Freund John Horner an, und wir verabredeten uns in der Fitzpatrick’s Bar. Ich hielt einen vorbeigehenden Schüler an und fragte ihn nach dem Weg zur Fitzpatrick’s Bar, aber er war so betrunken, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte, und glotzte mich nur benommen an. Er muss um die vierzehn Jahre alt gewesen sein. Dann wandte ich mich an eine Gruppe von Mädchen in ähnlich berauschtem Zustand und fragte sie, ob sie den Weg zur Bar kannten. Sie nickten alle und wiesen in die verschiedensten Himmelsrichtungen, woraufhin sie in hemmungsloses Gekicher ausbrachen. Sie torkelten vor mir herum wie Passagiere auf einem Schiff bei hohem Seegang. Auch sie waren nicht älter als vierzehn. »Geht’s euch Mädchen immer so gut?«, fragte ich.
    »Nur bei homecoming«, antwortete eine von ihnen.
    Ah, das war die Erklärung. Homecoming. Einer der gesellschaftlichen Höhepunkte eines Jahres am College. Die homecoming -Feierlichkeiten an amerikanischen Universitäten werden traditionsgemäß in drei Phasen zelebriert: 1. Man betrinkt sich hemmungslos; 2. man übergibt sich auf einem öffentlichen Platz; 3. man wacht auf, ohne zu wissen, wo man ist und wie man dort hingekommen ist, und trägt die Unterhosen verkehrt herum. Ich war offensichtlich irgendwo zwischen die Phasen eins und zwei geraten. Einige der besonders

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