Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
wie streng die Winter hier sind. Auch jetzt häufte sich der Schnee stellenweise noch über anderthalb Meter hoch am Straßenrand.
Yellowstone ist der älteste Nationalpark der Welt (gegründet 1872) und ungefähr so groß wie Connecticut. Über eine Stunde lang fuhr ich, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen, mit Ausnahme eines Parkaufsehers, der in einer Holzhütte saß und die Eintrittsgebühr von 10 Dollar von mir kassierte. Es muss ein aufregender Job für einen College-Absolventen sein, mitten in der Wildnis in einer Hütte zu sitzen und alle zwei, drei
Stunden einem Touristen 10 Dollar abzunehmen. Schließlich kam ich zu einer Abzweigung nach Grant Village und folgte der Straße durch die verschneiten Wälder. Das Dorf war ziemlich groß und verfügte über ein Visitors’ Centre, ein Motel, Geschäfte, ein Postamt und mehrere Campingplätze, aber alles war geschlossen. Jedes Fenster war mit Brettern vernagelt. Bei einigen Häusern reichten die Schneewehen fast bis ans Dach. Inzwischen hatte ich siebzig Meilen zurückgelegt, ohne ein einziges offenes Geschäft gesehen zu haben. Wie gut, dass ich den Wagen in Jackson voll getankt hatte.
Grant Village und das Nachbardorf West Thumb liegen am Yellowstone Lake, an dessen Ufer die Straße verläuft. Dampf stieg aus dem See und entwich blubbernd dem Schlamm am Straßenrand. Nun befand ich mich in der als Caldera bezeichneten Region des Parks. Einst erhob sich hier ein mächtiger Berg. Ein gewaltiger Vulkanausbruch hat ihn vor 600 000 Jahren in die Luft gejagt. Dabei wurden Unmengen von Geröll in die Atmosphäre geschleudert. Die Geysire, Thermalquellen und Schlammlöcher, für die der Park heute berühmt ist, sind die zischenden Hinterlassenschaften dieses Naturereignisses.
Gleich hinter West Thumb teilt sich der Highway und führt in einer Richtung zum Old Faithful, dem berühmtesten aller Geysire. Doch quer über die Straße hatte man eine Kette gespannt, an der mir ein rotes Schild signalisierte, dass die Straße gesperrt war. Über diese Straße lag Old Faithful siebzehn Meilen entfernt, in der anderen Richtung waren es achtzig. Ich fuhr weiter ins Hayden Valley. Dort kann man sein Auto in einer der zahlreichen Parkbuchten abstellen und über die Niederungen des Yellowstone River hinausblicken. Und mit etwas Glück entdeckt man ein paar Grizzlybären oder eine Herde grasender Büffel.
Am Parkeingang bekommt der Besucher eine ganze Reihe von Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg. So ist es beispielsweise streng verboten, sich den im Park lebenden Tieren zu nähern,
da man dabei wahrscheinlich getötet oder verstümmelt wird. Später las ich jedoch, dass bisher im Park mehr Menschen von anderen Menschen getötet worden sind als von Tieren. Dennoch stellen Grizzlies noch immer eine ernsthafte Gefahr für Camper dar. Jedes Jahr gibt es ein oder zwei Todesopfer zu beklagen. Wer im Park zelten will, wird angewiesen, nach jeder Mahlzeit die Kleidung zu wechseln und sie zusammen mit allen Nahrungsmittelvorräten in einer Tasche einhundert Yards vom Zelt entfernt an einen Ast zehn Fuß über den Erdboden zu hängen. Immer wieder hört man, dass Camper, die sich vorm Schlafengehen noch eine Tafel Schokolade gönnten, fünf Minuten später Besuch von einem Bären bekamen. Er habe seinen Kopf durch die Zeltöffnung gesteckt und gesagt: »Hey, Jungs, lasst mir was übrig!« Laut Broschüre der Parkverwaltung spricht sogar vieles dafür, dass Grizzlies durch Geschlechtsverkehr und Menstruation angelockt werden, was ich allerdings für eine wilde Spekulation halte.
Ich blinzelte durch das Fernglas meines Vaters, konnte aber keine Bären sehen, wahrscheinlich weil sie noch ihren Winterschlaf hielten und, noch wahrscheinlicher, weil nicht mehr viele von ihnen im Park leben. Der sommerliche Touristenandrang hat die meisten vertrieben, obwohl weite Teile von Yellowstone für Besucher geschlossen worden waren, um die Bären im Park zu halten. Dafür sah ich überall Herden von Büffeln. Mit ihren großen Köpfen und breiten Schultern über den dürren Beinen sind sie ziemlich seltsame Tiere. Es muss ein imposantes Bild gewesen sein, als sie noch zu Millionen durch die Prärien zogen.
Ich fuhr weiter zum Geyser Basin, der unbeständigsten, instabilsten Landschaft der Erde. Wenige Meilen östlich hebt sich das Land fast zweieinhalb Zentimeter im Jahr, was darauf schließen lässt, dass wieder ein großer Ausbruch bevorsteht. Das Geyser Basin bot einen unheimlichen,
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