Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Grundstücke oder Häuser in Atchison und Topeka investiert hatten, in der Annahme, dass diese Städte eines Tages ebenso groß sein würden wie Chicago oder San Francisco? Ungefähr am Ende des Zuges konnte ich in einem unverschlossenen Waggon die Umrisse von drei Gestalten erkennen: hoboes, umherziehende Arbeiter. Ich war erstaunt, dass es diese Leute noch gab, dass es noch immer möglich war, mit der Eisenbahn durchs Land zu vagabundieren. In der Abenddämmerung wirkte diese Lebensweise so romantisch, dass ich beinahe dem Zug nachgerannt wäre, um mich in den Waggon zu schwingen und zusammen mit ihnen in die Nacht zu entschwinden. Nichts weckt so sehr die Sehnsucht nach der großen Freiheit wie ein vor beirollender Nachtzug. Doch ich drehte mich nur um und stolperte seltsam zufrieden über die Gleise in die Stadt zurück.
27
Am folgenden Tag stand ich vor einer schwierigen Entscheidung. Sollte ich über die Interstate 90 zurück nach Wyoming fahren und mir die Kleinstadt Cody ansehen, oder sollte ich in Montana bleiben und das Custer National Battlefield besichtigen? Cody verdankt seinen Namen Buffalo Bill Cody, der sich dort unter der Bedingung begraben ließ, dass man die Stadt nach ihm benennen würde. Vermutlich hat er den Bürgern noch zwei weitere Auflagen gemacht: dass sie 1. mit seiner Beisetzung warteten, bis er gestorben war, und dass sie 2. das Städtchen mit so viel Touristenkitsch voll stopfen sollten, wie sie auftreiben konnten. Die Bürger witterten ihre Chance, das große Geld zu machen, willigten ein und schlagen seither aus Codys Ruhm kräftig Kapital. Heute lockt das Städtchen mit einem halben Dutzend Cowboy-Museen und anderen unterhaltsamen Einrichtungen, und natürlich hat der Besucher jede Menge Gelegenheit, seine Dollars für alberne Souvenirs auszugeben.
Die Bürger von Cody möchten die Welt glauben machen, Buffalo Bill sei das Fleisch und Blut ihrer Stadt gewesen. In Wirklichkeit, und ich erwähne das nicht ohne Stolz, stammte er aus Iowa. Er wurde 1846 in der Kleinstadt Le Claire geboren. Fest entschlossen, seinen Namen in klingende Münze zu verwandeln, kauften die Einwohner von Cody Buffalo Bills Geburtshaus und bauten es in Cody wieder auf. Doch wenn sie behaupten, er sei ein Sohn ihrer Stadt, so ist das eine glatte Lüge. Dabei hat die Stadt tatsächlich einen berühmten Sohn. Jackson Pollock, der Künstler, wurde in Cody geboren – ein Umstand,
dem man dort keinerlei Bedeutung beizumessen scheint. Vermutlich, weil Pollock im Erlegen von Büffeln eine absolute Niete war.
Das war also Möglichkeit Nummer eins. Als Alternative bot sich mir, wie ich schon sagte, eine Fahrt durch Montana nach Little Bighorn, wo General Custer auf die Nase fiel. Ehrlich gesagt fand ich keine der beiden Möglichkeiten besonders berauschend – ich hätte ein großes Glas Bier auf einer Terrasse mit Blick aufs Meer bevorzugt –, aber in Wyoming und Montana darf man nicht allzu wählerisch sein. Ich entschied mich schließlich für Custer’s Last Stand, was mich selbst überraschte, denn im Grunde habe ich etwas gegen Schlachtfelder. Ich kann ihnen keinen Reiz mehr abgewinnen, wenn die Leichen weggeschafft und alle Spuren des Gemetzels beseitigt sind. Mein Vater liebte Schlachtfelder. Mit seinem Reiseführer und einer Karte in der Hand schritt er sie ab und verfolgte begeistert das Auf und Ab in der Schlacht von Lickspittle Ridge oder wie sie eben geheißen haben mag.
Einmal stand ich vor der Wahl, mit meiner Mutter in ein Museum zu gehen und mir die Kleider der Präsidentengattinnen anzusehen oder bei meinem Dad zu bleiben. Ich entschied mich unüberlegterweise für Letzteres und verbrachte den ganzen langen Nachmittag damit, hinter ihm herzutrotten, während ich mir immer gewisser wurde, dass mein Dad den Verstand verloren hatte. »Dies muss die Stelle sein, an der General Goober sich aus Versehen in die Achselhöhlen geschossen hat, woraufhin er das Kommando an Oberstleutnant Bowlingalley übergeben musste«, sagte er, während wir uns einen steilen Hang hinaufschleppten. »Dann müssten sich Pillocks Truppen also bei den Bäumen dahinten neu formiert haben.« Er zeigte auf eine drei Hügel entfernte Baumgruppe und marschierte los. Während seine Unterlagen vor mir im Wind flatterten, seufzte ich »Wo geht er jetzt wieder hin?« Später erfuhr ich dann sehr zu meiner Empörung, dass die Besichtigung des Museums mit
den Kleidern der First Ladies ganze zwanzig Minuten gedauert hatte und dass meine
Weitere Kostenlose Bücher