Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Wie hypnotisiert starrte ich sie an. Noch nie zuvor hatte ich eine so schöne Frau in einem chinesischen Restaurant in Idaho gesehen. Nach einer Weile kam ein Mann herein, offensichtlich ein flüchtiger Bekannter der Familie. Er blieb an ihrem Tisch stehen und begann zu plaudern. Nachdem er der Schwedin vorgestellt worden war, fragte er sie, wie lange sie in Idaho Falls bleiben würde und ob sie schon die Sehenswürdigkeiten der Stadt besichtigt hätte – die Lavahöhlen und die heißen Quellen. (Sie hatte sie bereits besichtigt. Zey were vairy nice.) Dann stellte er die Frage aller Fragen: »Und, Greta, wo gefällt es dir nun besser, in den Vereinigten Staaten oder in Schweden?«
Das Mädchen errötete. Sie war unverkennbar noch nicht lange genug im Land, um auf diese Frage vorbereitet zu sein. Plötzlich sah sie eher aus wie ein Kind, nicht wie eine Frau. Mit einer verlegenen Handbewegung antwortete sie: »Oh, I sink in Sweden.« Betretenheit ergriff die Tischrunde. Jeder fühlte sich unbehaglich in seiner Haut. »Oh«, sagte der Mann enttäuscht, und die Unterhaltung wandte sich den Kartoffelpreisen zu.
Die Menschen in Amerikas Mitte stellen diese Frage bei jeder Gelegenheit. Wer in Amerika aufwächst, bekommt von frühester Kindheit an den Glauben – nein, das Wissen eingeimpft, Amerika sei die reichste und mächtigste Nation auf Erden, da sie von Gott am meisten geliebt würde. Amerika habe die perfekteste Regierungsform, die aufregendsten Sportereignisse, das schmackhafteste Essen und die üppigsten Portionen, die größten Autos, das billigste Benzin, die reichsten Naturschätze, die
produktivsten Farmen, die vernichtendsten Atomwaffen und das freundlichste, anständigste und patriotischste Volk der Welt. Besser könne ein Land einfach nicht sein. Dass es auch Menschen gibt, die lieber anderswo leben, ist völlig unbegreiflich und erscheint beinahe aufrührerisch. Ich war früher nicht anders. An der Highschool teilte ich ein Schließfach mit einem holländischen Austauschschüler, der mich einmal gereizt fragte, weshalb eigentlich jeder, absolut jeder von ihm erwarte, dass ihm Amerika besser gefiele als die Niederlande. »Holland ist meine Heimat«, sagte er. »Warum verstehen die Leute nicht, dass ich dort am liebsten lebe?«
Ich ließ mir seinen Standpunkt durch den Kopf gehen und sagte dann: »Ja, Anton, aber im Grunde willst du doch auch lieber hier leben, oder?« Und komischerweise wollte er das letzten Endes tatsächlich. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war, dass er als erfolgreicher Grundstücksmakler in Florida lebte, einen Porsche fuhr, teure Sonnenbrillen trug und ständig »Hey, what’s happening?«, sagte, was natürlich eine enorme Verbesserung ist, wenn man bedenkt, dass er aus einem Land kommt, in dem die Leute Holzschuhe tragen, an einem Schulterjoch Eimer voller Milch durch die Gegend schleppen und in jeder zweiten Generation eine deutsche Invasion erdulden müssen.
Am Morgen fuhr ich nach Wyoming. Ich fuhr durch eine Landschaft, die aussah wie die Illustration eines wunderschönen Kinderbuches mit Geschichten aus dem Westen – verschneite Gipfel, Kiefernwälder, idyllische Farmen, ein sich windender Fluss und ein Gebirgstal mit dem verheißungsvollen Namen Swan Valley. Eins muss man den Männern und Frauen lassen, die im Westen die Pionierarbeit geleistet haben – sie verstanden es, den Orten anschauliche Namen zu geben. Allein auf diesem Teil der Karte fand ich Namen wie Soda Springs, Massacre Rocks, Steamboat Mountain, Wind River, Flaming Gorge, Calamity Falls – Orte, deren Namen Abenteuer und Spannung versprachen,
auch wenn sie nur aus einer DX-Tankstelle und einem Tastee-Freez Drive-in bestanden.
Die meisten der frühen Siedler in Amerika besaßen auffallend wenig Talent im Erfinden von Ortsnamen. Entweder griffen sie fantasielos die Namen ihrer Heimat auf – New York, New Hampshire, New Jersey, New England –, oder sie wählten speichelleckend Namen wie Virginia, Georgia, Maryland und Jamestown in dem bemitleidenswerten Bemühen, sich die Gunst des Monarchen oder irgendeines gepuderten Aristokraten in der Heimat zu sichern. Oder aber sie übernahmen einfach die Namen, die die Indianer den Orten gegeben hatten, ohne zu wissen, ob Squashaninsect nun »Land der glitzernden Seen« bedeutet oder »Platz, an dem Big Chief Thunderclap Wasser ließ«.
Die Spanier waren noch schlimmer. Sie gaben allem und jedem religiöse Namen, so dass bis heute jeder Ort im Südwesten San
Weitere Kostenlose Bücher