Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
beinahe unwirklichen Anblick, eine Mondlandschaft aus dampfenden Erdspalten, zischenden Geysiren und seichten, tiefblauen Tümpeln. Ich
schlenderte über die Holzstege, die das Gelände dicht über der Erdoberfläche durchziehen. Überall warnten Schilder, dass jeder, der die Stege verlässt, in der brodelnden Erde versinkt und in dem unter der Oberfläche kochend heißen Wasser tödliche Verbrühungen erleidet. Über dem ganzen Ort lag Schwefelgestank.
Ich ging zum Steamboat Geyser, dem größten Geysir der Erde. Auf einem Schild las ich, dass seine Wasserfontäne bis zu 120 Meter hoch in die Luft schießt. Allerdings bricht er nur sehr selten aus. Der letzte große Ausbruch lag dreieinhalb Jahre zurück; er fand am 26. September 1984 statt. Während ich den Geysir betrachtete, begann er sich zu regen. Das dampfende Schlammloch vor mir gab ein klopfendes Geräusch von sich, als erzittere ein gigantischer Schließmuskel, und dann spie es eine dampfende Säule weißen Wassers aus, begleitet von einem Rauschen, wie bei einem Wal, der aus den Tiefen des Meeres auftaucht. Die Fontäne stieg nur etwa sechs bis neun Meter hoch, sprudelte aber sekundenlang, bevor sie erstarb, um erneut aufzusteigen, und wieder war die kalte Luft von Schwaden aus Wasserdampf erfüllt. Das Ganze wiederholte sich viermal, dann legte sich der Geysir wieder zur Ruhe. Als das Schauspiel zu Ende war, schloss ich meinen offenen Mund mit der Hand und ging zum Auto zurück, wohl wissend, dass ich soeben einen der unvergesslichen Augenblicke meines Lebens erlebt hatte.
Zum Old Faithful, von dem ich noch immer vierzig Meilen entfernt war, musste ich nun nicht mehr fahren. Stattdessen folgte ich der steilen Straße über den Roaring Mountain, vorbei am Nymph Lake, am Grizzly Lake und am Sheepeater Cliff – welch herrliche Namen! – und weiter zu den Mammoth Hot Springs, dem Sitz der Parkverwaltung. Das dortige Visitors’ Centre hatte geöffnet. Also ging ich hinein, sah mich um, nutzte die Gelegenheit zum Pinkeln, trank einen Schluck Wasser und fuhr weiter. Als ich Gardiner, das Städtchen am Nordrand des Parks, erreicht hatte, befand ich mich in einem anderen Staat, in Montana.
Ich fuhr zum ungefähr sechzig Meilen entfernten Livingston, durch eine Landschaft, die zwar weniger wild, aber schöner war als alles, was Yellowstone geboten hatte. Das mochte zum Teil daran liegen, dass die Sonne herauskam und den Spätnachmittag mit einer unerwarteten, frühlingshaften Wärme erfüllte. Lange Schatten lagen über dem Tal. Von Schnee war nichts mehr zu sehen, und auf den noch immer gelben Wiesen entlang der Straße zeigte sich der erste Hauch von frischem Grün. Es war fast Mai, und erst jetzt zog sich der Winter endgültig zurück.
Ich nahm ein Zimmer im Del Mar Motel in Livingston, ging essen und machte anschließend einen Spaziergang stadtauswärts den Highway entlang. Kaum war die Sonne hinter den nahen Bergen verschwunden, wurde es kalt. Aus der 300 Meilen nördlicheren Leere Kanadas peitschte ein rauer Wind herüber. Er klappte die Rückseite meiner Jacke hoch und ramponierte meine Frisur. Er ließ die Telefondrähte singen, als pfeife ein Mann durch die Zähne, und wirbelte durch das hohe Gras. Irgendwo quietschte ein Tor und schlug zu, quietschte wieder und schlug zu. Vor mir streckte sich eben und schnurgerade der Highway aus, bis er in der Ferne zu einem winzigen Fluchtpunkt zusammenschrumpfte. Von Zeit zu Zeit hörte ich hinter mir ein Auto nahen, dann brauste es dröhnend wie ein startender Düsenjet an mir vorbei. Während es näher und näher kam, dachte ich für einen Augenblick, es käme direkt auf mich zu, so nah klang es, doch kurz darauf schoss es vorüber, und ich sah zu, wie seine Rücklichter in der zunehmenden Dunkelheit verschwanden.
Auf den Bahngleisen, die parallel zum Highway verliefen, kam mir ein Güterzug entgegen. Anfangs nahm ich nur ein fernes Licht und ein kurzes Tuten wahr, aber bald rollte er heran, langsam und würdevoll, auf seiner nächtlichen Fahrt durch Livingston. Er war enorm groß – amerikanische Züge sind doppelt so groß wie europäische und mindestens eine Meile lang. Bevor ich den Überblick verlor, zählte ich sechzig Güterwagen.
Alle Waggons trugen Namen wie Burlington & Northern, Rock Island, Santa Fe. Komisch, dass Eisenbahnlinien so oft nach Städten benannt sind, die es nie zu etwas gebracht haben. Wie viele Leute wohl vor einem Jahrhundert ihr letztes Hemd verloren haben, weil sie ihr Geld in
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