Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Haartracht oberste Priorität einräumen. Er schäkerte dümmlich mit dem Bandleader, der natürlich einen silbergrauen Spitzbart trug, und wandte sich dann der Kamera zu, um feierlich zu verkünden: »Scherz beiseite, Leute. Wer jemals ein wirkliches Problem oder Ärger im Büro hatte, oder wer mit dem Leben einfach nicht zurande kommt, der wird sich ganz sicher sehr dafür interessieren, was unser erster Gast heute Abend zu sagen hat. Ladys and Gentlemen: Dr. Joyce Brothers.
Als die Band eine muntere Melodie anstimmte und Joyce Brothers die Bühne betrat, saß ich schlagartig so senkrecht, wie man in diesem Bett nur sitzen konnte, und schrie »Joyce! Joyce Brothers!«, als wäre sie eine alte Freundin von mir. Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte Joyce Brothers seit Jahren nicht gesehen. Sie hatte sich kein bisschen verändert. Nicht ein Haar auf ihrem Kopf sah anders aus als bei ihrem Vortrag über die Menstruationsblutung, bei dem ich sie 1962 zuletzt gesehen hatte. Es wirkte, als hätte man sie fünfundzwanzig Jahre lang in einer Kiste aufbewahrt. So unmittelbar würde ich eine Reise durch die Zeit wohl nie wieder erleben. Ich schaute zu, wie sie und Mr. Lackaffe über Penisneid und Eileiter plauderten, und erwartete gespannt, dass er zu ihr sagen würde: »Und nun eine Frage,
Joyce, von der ganz Amerika wollte, dass ich sie dir stelle: Welche Präparate benutzt du, um dir dein jugendliches Aussehen zu bewahren? Und wann gedenkst du, diese Frisur zu ändern? Und wie erklärst du es dir, dass Talkshow-Typen wie ich dich nach wie vor wieder und wieder in ihre Shows in ganz Amerika einladen?« Die Antwort liegt auf der Hand, denn offen gesagt ist Joyce Brothers ziemlich langweilig. Schaltet man die Johnny Carson Show ein und sie befindet sich unter den Gästen, dann ist klar, dass die ganze Stadt auf einer Riesenparty oder einer Premiere versammelt sein muss. Joyce Brothers ist wie das Fleisch und Blut der tiefsten Provinz von Illinois.
Doch wie von den meisten ganz und gar langweiligen Dingen ging auch von ihr etwas wunderbar Tröstliches aus. Ihr heiteres Antlitz in der Flimmerkiste am Fußende meines Bettes strahlte eine eigenartige Wärme aus und versetzte mich in einen Zustand von Einklang und Frieden mit der Welt. In diesem lausigen Motel hier draußen, inmitten einer weiten, leeren Ebene, begann ich zum ersten Mal, mich zu Hause zu fühlen. Irgendwie wusste ich, dass ich nach dem Erwachen dieses fremdartige Land in einem anderen, aber seltsam vertrauten Licht sehen würde. Glücklich schlief ich ein und träumte vom schönen Illinois, vom wogenden Mississippi River und von Dr. Joyce Brothers. Und auch das hört man nicht oft jemanden sagen.
4
Am nächsten Morgen überquerte ich den Mississippi bei Quincy. Irgendwie sah er nicht so gewaltig und majestätisch aus, wie ich ihn in Erinnerung gehabt hatte. Er war würdevoll. Er war beeindruckend. Ihn zu überqueren, dauerte eine ganze Weile. Er wirkte aber auch öde und lahm. Das konnte am Wetter liegen, auf das diese Eigenschaften ebenso zutrafen. Missouri unterschied sich nicht im Geringsten von Illinois, das sich seinerseits nicht im Geringsten von Iowa unterschieden hatte. Lediglich die Nummernschilder der Autos hatten eine andere Farbe.
In der Nähe von Palmyra hielt ich vor einem Café, setzte mich an den Tresen und bestellte ein Frühstück. Zu dieser frühen Stunde – kurz nach acht Uhr morgens – war das Café von Farmern bevölkert. Es gibt kaum etwas, das Farmer so sehr lieben, wie den halben (im Winter auch den ganzen) Tag zusammen mit anderen Farmern an einem Tresen zu hocken, Kaffee zu trinken und auf halb anzügliche Weise die Kellnerin zu necken. Ich hatte angenommen, dass dies die für sie arbeitsreichste Zeit des Jahres sei, doch sie schienen es überhaupt nicht eilig zu haben. Dann und wann legte einer ein 25-Cent-Stück auf den Tresen, erhob sich so schwerfällig, wie wenn er gerade sechs Gallonen Kaffee in sich hineingekippt hätte, und ging mit Worten wie: »Sag Tammy, er soll nichts anfangen, was er später bereut«, hinaus. Kurz darauf würden wir die Reifen seines Pick-ups über die geschotterte Einfahrt knirschen hören; jemand würde eine treffende Bemerkung über ihn fallen lassen
und dafür anerkennendes Gelächter ernten. Dann würde man sich wieder über Mastschweine, Politik oder Football unterhalten und bisweilen – vorausgesetzt, Tammy war außer Hörweite – auch über außereheliche Neigungen, nicht zuletzt über die
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