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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Tap und setzte mich an die Bar: Abgesehen von dem einbeinigen alten Mann hinten in der Ecke war ich der einzige Gast. Die Bardame war freundlich. Sie trug eine schmetterlingsförmige Brille und eine Bienenkorbfrisur. Ich sah auf den ersten Blick, dass ich eine Prostituierte vor mir hatte – das Freudenmädchen von Dullard, im Dienst seit ungefähr 1931. Mit unsichtbaren Lettern stand »Ready for Sex« auf ihrem Gesicht geschrieben, doch ihr Körper warnte »Aber die Kotztüte nicht vergessen«. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihr dickes Hinterteil in hautenge, knallrote Torerohosen zu zwängen und eine knappe Bluse über ihren Busen zu streifen. Sie sah aus, als hätte sie versehentlich in den Kleiderschrank ihrer Enkelin gegriffen. Sie war etwa sechzig. Es war wirklich scheußlich. Ich verstand, warum sich der Einbeinige in die hinterste Ecke verzogen hatte.
    Ich fragte sie, womit sich die Leute in Dullard so die Zeit vertrieben. »Denkst du an was Bestimmtes, Honey?«, erwiderte sie und warf mir aufreizende Blicke zu. Die »Ready for Sex«-Signale flackerten. Eine Situation, die mich verunsicherte. Ich war nicht daran gewöhnt, von Frauen umworben zu werden. Doch irgendwie habe ich immer geahnt, dass eines Tages der Moment kommen würde, und ich wusste: Wenn es so weit war, würde es an einem Ort wie diesem geschehen irgendwo in der tiefsten Provinz von Illinois mit einer sechzig Jahre alten Großmutter. »Na ja, vielleicht gibt es hier so was wie ein Theater oder gelegentlich ein internationales Schachturnier«, krächzte ich. Nachdem wir damit geklärt hatten, dass meine Liebe zu ihr nur rein platonischer Natur sein konnte, wurde sie ziemlich vernünftig« und sogar noch liebenswerter. Offen und in allen Einzelheiten
erzählte sie mir aus ihrem Leben, das aus einer Schwindel erregenden Aneinanderreihung von Ehen mit Typen zu bestehen schien, die entweder im Gefängnis saßen oder bei Schießereien ums Leben gekommen waren. Sie machte atemberaubend ehrliche Enthüllungen wie: »Also, Jimmy hat seine Mutter getötet. Ich weiß bis heute nicht, warum. Aber Curtis hat nie jemanden umgebracht. Nur einmal aus Versehen. Da überfiel er gerade eine Tankstelle und sein Gewehr ging los. Und Floyd – er war mein vierter Mann – hat auch noch nie jemanden umgebracht. Er brach den Leuten immer nur den Arm, wenn sie ihm auf die Nerven gingen.«
    »Bei dir muss es ja interessante Familientreffen geben«, wagte ich höflich zu bemerken.
    »Ich weiß nicht, was aus Floyd geworden ist«, fuhr sie fort. »Er hatte genau hier am Kinn so eine kleine Falte. Mit der sah er aus wie Kirk Douglas. Er war wirklich süß, aber er konnte ganz schön wütend werden. Hier auf dem Rücken habe ich eine sechzig Zentimeter lange Narbe. Da hat er mich mal mit ’nem Eispickel erwischt. Wülste sehen?« Sie begann, ihre Bluse hochzuziehen, was ich gerade noch verhindern konnte. Sie erzählte und erzählte. Hin und wieder grinste der Alte in der Ecke, der uns offensichtlich belauschte, zu mir herüber und zeigte seine großen, gelben Zähne. Ich schätze, Floyd hat ihm das Bein ausgerissen, als ihm sein Gegrinse auf die Nerven ging. Am Ende unserer Unterhaltung fragte mich die Bardame mit einem Seitenblick, als hätte ich mich heimlich über sie lustig gemacht: »Sag mal, Honey, wo kommst du eigentlich her?«
    Ich hatte keine Lust, ihr meine Lebensgeschichte zu erzählen, und sagte nur: »Aus Großbritannien«.
    »Also das muss man dir lassen, Honey. Für einen Ausländer sprichst du richtig gut Englisch.«
    Anschließend zog ich mich mit einem Sixpack in mein Motelzimmer zurück. Dort machte ich die Entdeckung, dass erst vor kurzem ein Pferd in meinem Bett gelegen haben musste. Der
Geruch und eine ungeheure Mulde in der Matratze führten mich zu dieser Erkenntnis. Das Bett war dermaßen durchgelegen, dass ich den Fernseher am Fußende nur sehen konnte, wenn ich meine Beine so weit wie möglich spreizte. Es kam mir vor, als läge ich in einer Schubkarre. Die Nacht war heiß, und die altersschwache Klimaanlage im Fenster trug, obwohl sie wie ein Stahlwerk lärmte, zur Senkung der Zimmertemperatur nur noch vereinzelte, äußerst klägliche Schnaufer kühler Luft bei. So gut wie bewegungsunfähig, legte ich mir den Sixpack auf die Brust und trank ein Bier nach dem anderen. Im Fernsehen lief eine Talkshow unter der Leitung eines geschniegelten Lackaffen mit Blazer, dessen Namen ich vergessen habe. Er war einer dieser Typen, die der Pflege ihrer

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