Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
eilig hinter mich und machte mich auf den Weg in Richtung Osten nach Springfield, der Hauptstadt von Illinois, und nach New Salem, einem restaurierten Dorf, in dem Abraham Lincoln als junger Mann gelebt hat. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, ist mein Dad mit uns dorthin gefahren. Damals fand ich es großartig und wollte nun wissen, ob es das immer noch war. Außerdem wollte ich feststellen, ob man Springfield in irgendeiner Weise eine ideale Stadt nennen
konnte. Denn das war eines der Dinge, die ich während dieser Reise zu finden hoffte – die perfekte Stadt. Ich habe immer in der Gewissheit gelebt, dass sie irgendwo da draußen in Amerika existieren müsse. Als ich klein war, zeigte WHO TV in Des Moines jeden Nachmittag nach der Schule alte Spielfilme. Während andere Kinder draußen mit Blechbüchsen Fußball spielten oder Ochsenfrösche fingen oder den kleinen Bobby Birnbaum ermutigten, Würmer zu essen (was er übrigens erstaunlich bereitwillig tat), saß ich allein hinter geschlossenen Vorhängen vor dem Fernseher und war in eine andere Welt versunken. Auf dem Schoß hatte ich einen Teller Oreo-Kekse, und auf meiner Brille flimmerten die Reflexe der verzauberten Welt von Hollywood. Es wurden überwiegend Klassiker gezeigt – Die besten Jahre unseres Lebens, Mr. Smith geht nach Washington, Gib keinem Trottel eine Chance, Es geschah in einer Nacht. Eines hatten all diese Filme gemeinsam: Sie spielten durchweg vor derselben Kulisse, nämlich in einem gepflegten, sonnigen Städtchen mit einer von Bäumen gesäumten Main Street voller freundlicher Händler (»Guten Morgen, Mrs. Smith!«), mit einem Gerichtsgebäude und grünen Wohngegenden, in denen schöne Häuser im Schatten schlanker Ulmen schlummerten. Ein Rad fahrender Zeitungsjunge, der seine Zeitungen auf die Veranden schleuderte, und ein sympathischer alter Kauz mit weißer Schürze, der den Bürgersteig vor seinem Drugstore fegte, gehörten ebenso dazu wie zwei forsch daherschreitende Männer in Anzügen. Diese beiden Männer im Hintergrund schlenderten oder bummelten grundsätzlich nicht. Sie schritten vielmehr in perfekter Harmonie durch das Bild. Darin waren sie richtig gut. Egal, was gerade passierte – ob Humphrey Bogart mit einer 45er einem Bösewicht das Licht ausblies, ob Jimmy Stewart Donna Reed aufrichtig seine Liebe erklärte, oder ob sich W. C. Fields eine noch in Cellophan gewickelte Zigarre anzündete – als Kulisse diente stets dieser zeitlose, friedliche Ort. Auch auf dem Höhepunkt der grauenhaftesten Katastrophen,
wenn Riesenameisen frei in den Straßen herumliefen oder Gebäude einstürzten, weil in der State University ein wissenschaftliches Experiment schief gegangen war – meistens entdeckte man irgendwo im Hintergrund den Zeitungen werfenden Zeitungsjungen und diese beiden Typen in Anzügen, die wie siamesische Zwillinge einherschritten. Sie waren absolut unerschütterlich.
Das galt nicht nur für Spielfilme. Alle Leute im Fernsehen lebten in diesem Elysium der Bürgerlichkeit – von Ozzie und Harriet, Wally und Beaver Cleaver bis zu George Burns und Gracie Allen. Ebenso die Leute auf den Reklameseiten der Magazine, in den Werbespots im Fernsehen und auf den Bildern von Norman Rockwell, die auf den Titelseiten der Saturday Evening Post erschienen. In Büchern war es nicht anders. Damals habe ich die Krimis von Hardy Boys verschlungen. Nicht etwa wegen der Handlung. Dass die an den Haaren herbeigezogen war, erkannte ich schon als Achtjähriger (»Sag mal, Frank, glaubst du nicht auch, dass die Kerle mit dem merkwürdigen Akzent, die wir gestern am Moose Lake gesehen haben, deutsche Spione sind? Das sind gar keine Fischer. Und das Mädchen, das auf dem Boden ihres Kanus lag und diesen Verband um den Mund trug, hatte auch nicht Parodontose, sondern war die Tochter von Dr. Rorshack. Ich habe das komische Gefühl, dass diese Typen uns sogar einiges über den verschwundenen Raketentreibstoff erzählen können!«). Nein, ich las die Bücher wegen Franklin W. Dixons anschaulicher, wenn auch nebensächlicher Beschreibungen von Bayport, der unsagbar malerischen Heimatstadt von Hardy Boys. Dort standen Häuser mit Schaukeln auf den Veranden an einer blauen Bucht voller Segelboote und Barkassen. Es war ein Ort ewiger Abenteuer und endloser Sommer.
Es fing an mich zu ärgern, dass ich diese Stadt nie gesehen hatte. Jedes Jahr fuhren wir Hunderte und Aberhunderte von Meilen durch das Land auf der irrsinnigen Jagd nach
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