Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
Vom Netzwerk:
eine kleine Goldgrube ist, die jährlich 135 000 Besucher anlockt.
    Ich ging von Fenster zu Fenster und folgte einem dicken Glatzkopf, dessen Speckrollen sich wie ein Sortiment Schläuche unter seinem Hemd wölbten. »Was halten Sie davon?«, fragte ich ihn. Sofort wandte er sich mir mit dieser unmittelbaren Freundlichkeit zu, die Amerikaner Fremden gegenüber so reichlich verströmen – ihr angenehmster Wesenszug. »Oh, ich finde es großartig. Ich komme jedes Mal hierher, wenn ich in Hannibal bin – so zwei-, dreimal im Jahr. Manchmal fahre ich extra einen Umweg, um mir das Haus anzusehen.«
    »Wirklich?« Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie verblüfft ich war.
    »Ja. Ich bin heute wohl zum zwanzigsten oder dreißigsten Mal hier. Das ist ein richtiges Heiligtum.«
    »Finden Sie, dass das Haus gut rekonstruiert ist?«
    »Ja, ganz bestimmt.«
    »Glauben Sie, es sieht so aus, wie Twain es in seinen Büchern beschrieben hat?«
    »Ich weiß nicht«, sagte der Mann nachdenklich. »Ich habe nie eins seiner Bücher gelesen.«
    Das kleine dem Haus angegliederte Museum war besser. Da
gab es Schaukästen mit Gegenständen aus dem Leben von Twain – Erstausgaben, eine seiner Schreibmaschinen, Fotografien, ein paar Briefe. Kaum etwas brachte ihn mit dem Haus oder der Stadt in Verbindung. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Twain Hannibal und Missouri verlassen hatte, sobald er nur konnte, und nie hierher zurückkehren wollte. Ich ging hinaus und sah mich um. Neben dem Haus hing an einem weißen Zaun ein Schild mit der Aufschrift TOM SAWYERS ZAUN. HIER STAND DER BRETTERZAUN, DEN EIGENTLICH TOM SAWYER STREICHEN SOLLTE, DER ALLERDINGS STATTDESSEN SEINE BANDE ÜBERREDETE, DIESE VER-GNÜGLICHE BESCHÄFTIGUNG FÜR IHN ZU ÜBERNEHMEN, WÄHREND ER DANEBENSASS UND AUFPASSTE, DASS SIE IHRE ARBEIT GUT MACHTEN, WOFÜR ER SICH AUCH NOCH BEZAHLEN LIESS.
    Wenn das nicht das Interesse an Literatur weckt! Direkt neben dem Twain-Haus und -Museum – und zwar Tür an Tür – stand das Mark-Twain-Drive-In-Restaurant mit kleinen Parkbuchten voller Autos, deren Insassen an ihren Fenstern befestigte Tabletts kahl fraßen. Es verlieh der Szenerie einen Anflug von Klasse. Ich begann zu verstehen, warum Clemens nicht nur die Stadt, sondern auch seinen Namen wechselte.
    Ich schlenderte durch das Geschäftsviertel von Hannibal. Hier gab es nichts als Autoersatzteillager, leer stehende Häuser und unbebaute Grundstücke. Ich hatte immer angenommen, dass sich alle Städte an den Ufern eines Flusses – selbst die ärmeren unter ihnen – durch eine Art verblichene Eleganz oder einen Hauch von Verwegenheit von anderen Städten unterscheiden, dass der Fluss eine Verbindung zur großen, weiten Welt herstellt und so eine interessantere, kultiviertere Lebensart verbreitet. Nicht so in Hannibal. Die Stadt hatte offensichtlich bessere Zeiten gesehen, aber auch die konnten nicht allzu blendend gewesen sein. Das Hotel »Mark Twain« war mit Brettern vernagelt. Ein stattliches Gebäude, an dem jedes einzelne
Fenster mit Sperrholz verrammelt ist, bietet schon einen traurigen Anblick. Jeder Betrieb in der Stadt schien von Mark Twain und seinen Büchern zu profitieren – die Mark-Twain-Dachdeckerei, die Mark-Twain-Sparkasse, das Tom ’n’ Huck Motel, der Injun-Joe-Campingplatz mit Go-Kart-Bahn, das Huck Finn Shopping Center. Man konnte sich sogar in der Mark-Twain-Nervenklinik von seinen Neurosen kurieren lassen – etwas, das vermutlich mit jedem Tag, den man in Hannibal verbrachte, nötiger wurde. Die Stadt war furchtbar und traurig. Eigentlich wollte ich hier noch zu Mittag essen, doch die Vorstellung, einen Tom-Sawyer-Burger oder eine Injun-Joe-Cola vorgesetzt zu bekommen, verdarb mir den Appetit und die Lust, länger in Hannibal zu bleiben.
    Ich ging zurück zum Wagen. Jedes entlang der Straße geparkte Auto trug ein Nummernschild mit der Inschrift »Missouri – the Show Me State«, was mich zu der müßigen Überlegung verleitete, ob dies eine Abkürzung für »Zeig mir den Weg in irgendeinen anderen Staat« sein könnte. Jedenfalls überquerte ich den – noch immer trüben und erstaunlich wenig beeindruckenden – Mississippi über eine lange, hohe Brücke und kehrte Missouri ohne Bedauern den Rücken. Auf der anderen Seite verkündete ein Schild ANSCHNALLEN. DAS IST PFLICHT, IN ILLINOIS. Direkt darunter hing ein weiteres Schild mit der Aufschrift UND DIE GESETZE DER INTERPUNKTION SIND UNS NOCH IMMER FREMD.

    Ich brachte die Staatsgrenze

Weitere Kostenlose Bücher