Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Wann sind wir endlich da?« Voller Zuversicht, bei dieser Etappe der Reise in Missouri angelangt zu sein, hatte ich im Autoatlas schon die Missouri-Seite aufgeschlagen. Missgelaunt hielt ich am Straßenrand und nahm eine Kurskorrektur vor. Direkt vor mir verkündete ein Schild ANSCHNALLEN. DAS IST PFLICHT, IN ILLINOIS. Gegen die Gesetze der Interpunktion zu verstoßen, gilt offensichtlich nicht als Straftat. Ich vertiefte mich in meine Straßenkarten. Wenn ich in Hamilton von diesem Highway abzweigen würde, könnte ich am Ostufer des Flusses entlangfahren und in Quincy die Staatsgrenze von Missouri überqueren. Die Straße war sogar als landschaftlich schöne
Strecke gekennzeichnet. Vielleicht würde meine Schussligkeit doch noch zu etwas nütze sein.
Ich folgte der Straße durch Warsaw, ein kleines, heruntergekommenes Städtchen am Ufer des Mississippi. Ein Hügel fiel zum Fluss hin steil ab, um dann flacher und flacher zu werden – und wieder bekam ich den Mississippi nur für einen flüchtigen Moment zu Gesicht. Unvermittelt verwandelte sich die Landschaft in eine weite, angeschwemmte Ebene. Die Sonne stand schon tief am Himmel. Zu meiner Linken erstreckte sich eine Hügelkette, deren vereinzelte Bäume einen ersten Hauch ihrer Herbstfarben zeigten. Rechts der Straße war das Land so flach wie eine Tischplatte. Auf den Feldern wirbelten Mähdrescher Staubwolken auf und waren von früh bis spät damit beschäftigt, die Ernte einzubringen. In weiter Ferne fingen Getreideheber die bleichen Sonnenstrahlen auf und erstrahlten in grellem Weiß, als würden sie von innen erleuchtet. Irgendwo dahinten und immer unsichtbar lag der Fluss.
Ich fuhr weiter. Kein Hinweisschild wies mir den Weg. Schlecht oder gar nicht ausgeschilderte Straßen sind in Amerika alles andere als eine Seltenheit. Besonders auf Landstraßen, die von Nirgendwo nach Nirgendwo führen, muss man sich auf seinen Orientierungssinn verlassen – ein Umstand, der mich, das wollen wir hier nicht vergessen, erst vor wenigen Stunden in den falschen Staat gebracht hatte. Nach meinen Berechnungen musste die Sonne rechts von mir liegen, solange ich in Richtung Süden fuhr (eine Schlussfolgerung, bei der mir die Vorstellung zu Hilfe kam, ich würde in einem winzigen Auto über eine große Amerikakarte steuern). Doch die Straße wand und krümmte sich, so dass die Sonne mal vor mir, mal rechts oder links neben mir auftauchte, als wollte sie mich an der Nase herumführen. Zum ersten Mal an diesem Tag wurde mir wieder bewusst, dass ich mich am Ende der Welt befand, mitten auf einem riesigen Kontinent.
Ohne Vorwarnung verwandelte sich der Highway in eine
Schotterpiste. Mit beängstigendem Getöse schlugen Gipssteinchen wie Pfeilspitzen gegen die Unterseite des Wagens. Visionen von zerborstenen Schläuchen und aus allen Ritzen spritzendem, heißem Öl stiegen in mir auf. Mich selbst sah ich schon neben einem qualmenden, zischenden Auto am Rand einer verlassenen Straße stehen. Die Sonne hatte inzwischen den Horizont erreicht und tauchte den Himmel in ein blasses Rosa. Mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengegend fuhr ich weiter und stellte mich darauf ein, die Nacht unter den Sternen zu verbringen, in Gesellschaft von hundeähnlichen Tieren, die an meinen Füßen schnüffelten, und Schlangen, die es sich auf meinem Hosenbein gemütlich machten. Vor mir auf der Straße nahm ein näher kommender Staubsturm die Gestalt eines Pick-up-Trucks an. Er raste mit höllischer Geschwindigkeit an mir vorbei, schleuderte steinerne Geschosse gegen meinen Wagen, die an die Seiten und gegen die Fenster prasselten, und ließ mich dann in einer Staubwolke treibend zurück.
Hilflos in den Dunst starrend, holperte ich weiter. Gerade rechtzeitig, um zu erkennen, dass gute fünf Meter vor mir eine Kreuzung mit Stoppschild lag, wurde die Sicht wieder klar. Ich fuhr mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Meilen pro Stunde, hatte also auf einer Schotterstraße einen Bremsweg von ungefähr drei Meilen. Ich trat mit aller Kraft in die Bremsen und kreischte wie Tarzan, wenn er eine Liane verfehlt. Der Wagen geriet ins Schleudern, rutschte am Stoppschild vorbei auf einen asphaltierten Highway und kam dort mit sanftem Schaukeln zum Stehen. In diesem Augenblick ertönte die gewaltige Hupe eines gigantischen Sattelschleppers, der mit viel Getöse und Lichthupe an mir vorbeisauste und den Wagen erneut zum Schaukeln brachte. Wäre ich drei Sekunden früher auf den Highway geschlittert,
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