Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
hatte stets sorgsam darauf geachtet, dass die Öffentlichkeit ihn nicht als den Krüppel zu sehen bekam, der er war. Und hier stand er nun sozusagen ohne Hosen vor uns. In einem anderen Raum waren all die selbstgebastelten Geschenke ausgestellt, die er während seiner Zeit als Präsident erhalten und dann vermutlich in der hintersten Ecke irgendeines riesigen Schrankes verstaut hatte. Da gab es Dutzende handgeschnitzter Spazierstöcke, in Holz eingelegte Landkarten der Vereinigten Staaten und Porträts von F. D. R., die man in Walrosszähne geritzt oder mit Säure in Schieferplatten geätzt hatte. Erstaunlich, welche Perfektion jedes einzelne Stück aufwies
– das Resultat von Hunderten von Stunden unermüdlichen Schnitzens und Polierens. Und all das, um es einem Fremden zu schenken, dem es nichts weiter bedeuten würde als ein Posten mehr in einem ganzen Arsenal von Geschenken. Ich war so in die Betrachtung dieser Dinge vertieft, dass ich es kaum bemerkte, als die alten Leute hereinplatzten, ein wenig außer Atem, aber nichtsdestoweniger lebhaft. An einem der Schaukästen drängelte sich eine Lady mit blaustichigem Haar vor meine Nase. Sie warf mir einen Blick zu, der wohl bedeuten sollte »Ich bin alt. Ich kann mich hinstellen, wo ich will«, um sich dann dem Schaukasten zuzuwenden. »Sag mal, Hazel«, rief sie laut, »weißt du, dass du am selben Tag Geburtstag hast wie Eleanor Roosevelt?«
»Ist das wahr?«, antwortete eine schrille Stimme ans dem Nebenraum.
»Ich selbst habe am selben Tag wie Eisenhower Geburtstag«, fuhr die Lady mit dem bläulichen Haar in unveränderter Lautstärke fort und verteidigte ihre Stellung vor dem Schaukasten mit einem energischen Schwung ihres üppigen Hinterteils. »Und einer meiner Cousins hat am selben Tag wie Harry Truman Geburtstag.«
Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, die Frau bei den Ohren zu packen und ihre Stirn gegen mein Knie zu hämmern. Aber stattdessen ging ich in den Nebenraum, wo ich den Eingang zu einem kleinen Kino entdeckte. Dort zeigten sie einen knisternden Schwarzweißfilm über Roosevelts Kampf gegen Polio und seine langen Aufenthalte in Warm Springs. Man sah, wie er sich die spindeldürren Beine rieb, um sie zu beleben, als wären sie nur eingeschlafen. Der Film war ausgezeichnet. Er bewegte, ohne rührselig zu sein. Ein UPI-Korrespondent hatte das Drehbuch geschrieben und den Kommentar gesprochen. Auch Stummfilme wurden gezeigt. Alle Personen bewegten sich darin so ruckartig hektisch, als würden sie von jemandem außerhalb der Reichweite der Kamera zur Eile getrieben.
Diese Filme waren im Haus Roosevelts gedreht worden und erregten dieselbe voyeuristische Faszination wie zuvor die Stützapparate für F. D. R.s Beine.
Nun ging es endlich zum Little White House. Um nicht noch einmal mit den alten Leuten zusammenzutreffen, legte ich den Rest des Weges fast im Sprint zurück. Das Haus stand am Ende eines von Kiefern gesäumten Weges hinter einem weißen Wachhäuschen. Überrascht stellte ich fest, wie klein es war – ein kleines, weißes Cottage mitten im Wald. Es hatte fünf kleine, mit dunklem Holz getäfelte Räume, die alle zu ebener Erde lagen. Dass dies das Zuhause eines Staatspräsidenten gewesen sein soll, und zwar eines so reichen Staatspräsidenten wie Roosevelt, war kaum zu glauben, vor allem, da ihm der größte Teil des umliegenden Landes gehörte, einschließlich des Hotels an der Main Street, sowie mehrere Cottages und die heißen Quellen selbst. Durch seine Kompaktheit sah das Häuschen nur umso hübscher und behaglicher aus. Es wirkte, als wäre es noch immer bewohnt. Man konnte den Wunsch nicht unterdrücken, es selbst zu besitzen, auch wenn das bedeutete, in Georgia leben zu müssen. In jedem Zimmer informierte ein Tonband darüber, wie Roosevelt arbeitete und welchen Therapien er sich im Cottage unterzog. Dass er eigentlich hierher kam, um in diesem ländlichen Idyll mit seiner Sekretärin, Lucy Mercer, erotische Schäferstündchen zu halten, wurde diskret verschwiegen. Ihr Schlafzimmer lag an der einen Seite des Wohnzimmers, seins an der anderen. Wenn der Kommentator auf dem Band dies auch unerwähnt ließ, so wies er doch darauf hin, dass Eleanors Schlafzimmer am anderen Ende des Häuschens – und entschieden weniger komfortabel als das der Sekretärin – meistens als Gästezimmer genutzt wurde, da Eleanor ihren Mann nur selten auf seinen Reisen in den Süden begleitete.
Hinter Warm Springs machte ich einen kleinen
Weitere Kostenlose Bücher