Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
und zudem als Träger des albernsten Vornamens der Kolonialgeschichte von sich reden machte. Die Bürger von Savannah scheinen den alten Button im Laufe der Jahre jedoch aus den Augen verloren zu haben. Auf einem historischen Wegweiser hieß es, er läge möglicherweise an der Stelle begraben, an der ich gerade stand. Woanders las ich, er könnte seine letzte Ruhestätte auch unter jenem Grabmal in der Ecke gefunden haben – aber ebenso gut auch irgendwo anders. Man wusste also nie, ob man nicht gerade auf Button herumtrampelte.
Im Geschäftsviertel von Savannah fühlte ich mich in das Jahr 1959 zurückversetzt. Zumindest schien das Warenangebot des Woolworth-Kaufhauses aus jener Zeit zu stammen. Ich fand ein schönes, altes Lichtspieltheater, das Weis’s, doch es war geschlossen. In amerikanischen Städten gehören Kinos in Downtown leider, leider der Vergangenheit an. Ständig liest man, wie wichtig die Filmindustrie für Amerika ist, doch die Kinos sind heutzutage ausnahmslos in die Einkaufszentren der Vorstädte verbannt. Dort hat man die Wahl zwischen einem Dutzend verschiedener Filme, doch jedes Kino ist gerade so groß wie ein überdimensionales Gefrierfach und bietet nur unwesentlich mehr Komfort. Galerien gibt es nicht mehr. Können Sie sich das vorstellen? Können Sie sich ein Kino ohne Galerie vorstellen? Ins Kino gehen bedeutet für mich, in der vordersten Reihe der Galerie zu sitzen, die Füße auf die Balustrade zu legen, leere Bonbonschachteln auf die Leute in den unteren Rängen fallen zu lassen (oder während der langweiligeren Liebesszenen Cola auf ihre Köpfe zu tröpfeln) und Nibs in Richtung Leinwand zu schleudern. Nibs waren vermutlich aus Kautschuküberresten aus dem Korea-Krieg hergestellte Bonbons mit Lakritzgeschmack,
die sich in den fünfziger Jahren einer eigentümlichen Beliebtheit erfreuten. Sie waren praktisch ungenießbar. Lutschte man sie jedoch eine Minute lang und warf sie dann an die Leinwand, blieben sie mit einem interessanten »pock« daran kleben. Traditionsgemäß verbrachten wir unsere Samstagnachmittage damit, in den Bus nach Downtown zu steigen, ins Orpheum zu gehen, eine Packung Nibs zu kaufen und stundenlang die Leinwand zu bombardieren.
Das war nicht ganz ungefährlich, denn der Manager des Kinos hatte brutale Platzanweiser engagiert, Schulabbrecher der Tech High School, die nur eines in ihrem Leben bedauerten: nicht im Deutschland Hitlers zur Welt gekommen zu sein. Mit leistungsstarken Taschenlampen patrouillierten sie in den Gängen und hielten nach Kindern Ausschau, die sich danebenbenahmen. Zwei- oder dreimal während eines Films erfasste ein Lichtkegel pfeilartig einen glücklosen Knirps, der halb stehend, mit einem klebrigen Nib in der Hand, in Wurfstellung erstarrte. Sie stürzten sich auf ihn und schleppten den kreischenden Jungen hinaus. Meinen Freunden oder mir ist das, dem Himmel sei Dank, nie passiert. Wir mutmaßten jedes Mal, dass sie die verschleppten Opfer mit elektrischen Folterinstrumenten traktierten, bevor sie sie der Polizei übergaben, die ihrerseits dafür sorgen würde, dass die Pechvögel für lange Zeit hinter den Mauern einer Besserungsanstalt verschwanden. Das waren noch Zeiten! Mir kann keiner erzählen, dass sich diese vorstädtischen Kinokomplexe mit ihren Schuhkartonkinos und den Leinwänden von der Größe eines Badehandtuchs mit den Reizen eines dieser höhlenartigen Lichtspieltheater in Downtown messen können. Niemand scheint sich darüber im Klaren zu sein, dass unsere Generation vielleicht die letzte ist, für die sich ein Kinobesuch noch mit einem gewissen Zauber verbindet.
Während ich darüber nachdachte, erreichte ich die Water Street am Savannah River. Ein neu angelegter Spazierweg führte den Fluss entlang. Der Fluss selbst wirkte finster. Er stank. Am
gegenüberliegenden Ufer lag South Carolina. Dort gab es nichts zu sehen als baufällige Lagerhäuser und, weiter stromabwärts, Fabriken, aus deren Schornsteinen Rauchschwaden gen Himmel stiegen. Die alten Baumwolllagerhäuser, die das Flussufer auf der Savannah-Seite säumten, waren dagegen großartig. Im Erdgeschoss dieser gelungen restaurierten Gebäude befanden sich Boutiquen und Austernbars, während man den oberen Stockwerken einen Hauch ihrer ursprünglichen Schäbigkeit gelassen hatte. Sie verlieh dem Ganzen diese gewisse Verwegenheit, nach der ich seit Hannibal gesucht hatte. Ich muss schon sagen, einige der Läden waren fast ein wenig zu niedlich. Einer nannte
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