Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Umweg, um über eine angeblich landschaftlich reizvolle Straße nach Macon zu fahren, aber allzu viele Reize konnte ich der Strecke nicht abgewinnen.
Sie war nicht gerade reizlos, aber eben auch nicht reizvoll. In mir stieg der Verdacht auf, dass die Markierungen für die landschaftlich schönen Strecken mehr oder weniger willkürlich auf meiner Karte verteilt worden waren. Ich stellte mir vor, wie irgendein Mensch, der nie südlicher als bis Jersey City gekommen war, in seinem New Yorker Büro sitzt und sich sagt: »Von Warm Springs nach Macon? Hört sich nett an«, und wie er dann mit der Zunge im Mundwinkel sorgfältig die orange Linie strichelt, die eine Landschaft voller Reize verspricht.
Macon war ein hübsches Städtchen. (Im Süden schien es nur hübsche Städtchen zu geben.) Ich hielt vor einer Bank, um einen Scheck einzulösen, und wurde von einer Dame aus Great Yarmouth bedient, was uns beide ein wenig in Aufregung versetzte. Dann fuhr ich weiter, über die Otis-Redding-Gedächtnisbrücke. In weiten Teilen Amerikas und ganz besonders im Süden pflegt man Bauwerke aus Beton nach ortsansässigen Berühmtheiten zu benennen – die Sylvester-C.-Grubb-Gedächtnisbrücke, der Chester-Ovary-Damm und so weiter. Ich halte das für eine sehr merkwürdige Angewohnheit. Da arbeitet jemand sein ganzes Leben lang, klammert sich mit aller Macht an den Erfolg, macht Überstunden, vernachlässigt seine Familie, hintergeht seine Mitmenschen, nimmt in Kauf, dass jeder, mit dem er in Berührung kommt, ihn für ein Arschloch hält, nur damit eines Tages eine Highway-Brücke über den Tallapoosa River seinen Namen trägt! Da stimmt doch etwas nicht. Na ja, immerhin war diese Brücke nach jemandem benannt, von dem auch ich gehört hatte.
Ich fuhr auf die Interstate 16 und nahm Kurs auf Savannah im Osten. Zwischen mir und Savannah lagen 173 Meilen unbeschreiblicher Langeweile. Die Fahrt durch die lehmrote Ebene von Georgia kostete mich fünf heiße, schwer erträgliche Stunden, während Sie, glücklicher Leser, nur den Blick zum nächsten Absatz schweifen lassen müssen.
In gespannter Erwartung stand ich auf dem Lafayette Square in Savannah, inmitten plätschernder Brunnen und alter Bäume, von denen Spanisches Moos herabhing. Vor mir erhob sich eine blendend weiße Kathedrale mit gotischen Zwillingstürmen. Ringsherum standen 200 Jahre alte, verwitterte Backsteinhäuser, deren sturmsichere Fensterläden offensichtlich auch heute noch benutzt wurden. Ich hatte nicht gewusst, dass in Amerika eine solche erhabene Ruhe möglich war. Etwa zwanzig dieser kühlen, stillen Plätze unter einem Baldachin aus Bäumen mochte es in Savannah geben, eingebettet in ein Netz aus ebenso schattigen und ruhigen Seitenstraßen. Erst wenn man diesen städtischen Regenwald verlässt und sich in den offenen Straßen der Neustadt der Glut der sengenden Sonne aussetzt, merkt man, wie heiß der Süden sein kann. Es war Oktober, in Iowa die Zeit der Flanellhemden und des heißen Grogs. Doch hier brannte die Sommersonne mit unverminderter Intensität. Es war erst acht Uhr morgens, und schon lockerten Geschäftsleute ihre Krawatten und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Wie heiß muss es hier erst im August sein? Jedes Geschäft und jedes Restaurant verfügt über eine Klimaanlage. Geht man hinein, gefriert einem der Schweiß auf der nackten Haut. Geht man wieder auf die Straße, stößt einem die Luft heiß und unangenehm wie der Atem eines Hundes entgegen. Nur auf den Plätzen erreichen die Temperaturen ein wohltuendes Mittelmaß.
Savannah ist eine verführerische Stadt. Fast gegen meinen Willen wanderte ich stundenlang durch ihre Straßen. Die Stadt verfügt über mehr als 1000 historische Gebäude, von denen viele bis heute bewohnt sind. Bisher hatte ich nur in New York erlebt, um wie viel lebendiger eine Downtown wirkt, wenn die Menschen dort nicht nur arbeiten, sondern auch wohnen, wenn Kinder in den Straßen Ball spielen oder auf den Treppen der Häuser Seilspringen. Über den kopfsteingepflasterten Gehsteig der Oglethorpe Avenue schlenderte ich zum Colonial Park Cemetery. Der Friedhof war voll gestopft mit verfallenden Denkmälern
und Grabsteinen von Leuten, die in der Geschichte des Staates eine wichtige Rolle gespielt haben – Archibald Bulloch, der erste Präsident von Georgia, James Habersham, »ein führender Kaufmann«, und Button Gwinnett, der als einer der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung landesweiten Ruhm genießt
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