Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
unter die Lupe genommen und kam zu dem Ergebnis, dass die getesteten Schüler dümmer seien als die Polizei erlaubt. Mehr als zwei Drittel der Testpersonen wusste weder, wann der amerikanische Bürgerkrieg stattgefunden hatte, noch konnten sie etwas mit den Namen Stalin und Churchill anfangen oder den Verfasser der Canterbury Tales benennen. Fast die Hälfte der Befragten war der
Meinung, der Erste Weltkrieg hätte vor 1900 begonnen. Ein Drittel nahm an, Roosevelt wäre während des Vietnamkrieges Präsident der Vereinigten Staaten gewesen und Columbus hätte Amerika nach 1750 entdeckt. Zweiundvierzig Prozent waren nicht in der Lage, ein einziges Land in Asien zu nennen – was ich für besonders beachtlich halte. Ich könnte das alles selbst kaum glauben, hätte ich nicht im Jahr zuvor Gelegenheit gehabt, mit zwei amerikanischen Oberschülerinnen durch Dorset zu fahren, und dabei feststellen können, dass keines der Mädchen – beide durchaus aufgeweckt und inzwischen an namhaften Colleges immatrikuliert – jemals von Thomas Hardy gehört hatte. Wie kann man achtzehn Jahre alt werden, ohne zumindest von ihm gehört zu haben?
Es ist mir bis heute ein Rätsel. Ich vermute jedoch, dass man nicht einmal rissige Lippen bekäme, wenn man sich eine Woche lang damit beschäftigen würde, jeden Arsch in Auburn zu küssen, dessen Besitzer jemals von Thomas Hardy gehört hat. Es mag sein, dass diese Bemerkung vollkommen ungerechtfertigt ist. Entgegen all meinen Erfahrungen ist es immerhin möglich, dass sich hinter Auburn eine Brutstätte von Hardy-Anhängern verbirgt. Mit Sicherheit kann ich jedenfalls sagen, dass es in Auburn nicht eine vernünftige Buchhandlung gibt. Eine Universitätsstadt ohne vernünftige Buchhandlung! Wie ist das möglich? Es gab eine Buchhandlung, aber die verkaufte nichts als Lehrbücher und eine Auswahl ganz und gar unliterarischer Sweatshirts, Stofftiere und anderen Krimskrams mit dem Emblem der Auburn University. An den meisten amerikanischen Universitäten wie Auburn sind 20 000 und mehr Studenten eingeschrieben, und es unterrichten mindestens 800 oder 1000 Professoren und Dozenten. Wie ist es möglich, dass eine Stadt mit einer so großen Gemeinde gebildeter Menschen nicht eine einzige vernünftige Buchhandlung auf die Beine stellen kann? Meiner Ansicht nach sollte sich die National Endowment for the Humanities mindestens ebenso sehr mit dieser Frage beschäftigen wie mit
den Ursachen für das schlechte Abschneiden der Highschool-Schüler in Sachen Allgemeinbildung.
Die Gründe für ihr Unwissen sind mir übrigens wohl bekannt. Sie beantworten die Fragen, so schnell sie können, aufs Geratewohl, und schlafen dann. Wir haben das früher nicht anders gemacht. Einmal im Jahr versammelte unser Rektor, Mr. Toerag, die gesamte Highschool im Auditorium und legte uns im Rahmen einer landesweiten Prüfung Multiple-choice-Tests zu den verschiedensten Themen vor, die uns einen langweiligen Tag lang beschäftigten. Wir hatten bald kapiert, dass wir die Arbeit in einem Bruchteil der Zeit erledigen konnten, wenn wir uns nicht weiter um die Fragen kümmerten, sondern unsere Kreuzehen wahllos setzten. Bis der nächste Test an die Reihe kam, konnten wir dann die Augen schließen und in erotischen Tagträumen schwelgen. Solange unsere Bleistifte ordentlich beiseite gelegt waren und wir nicht schnarchten, ließ Mr. Toerag uns in Ruhe. Seine Aufgabe bestand darin, die Reihen auf und ab zu marschieren und aufzupassen, dass sich niemand danebenbenahm. Den ganzen Tag marschierte Mr. Toerag durch die Gegend und hielt nach Bösewichten Ausschau. Damit verdiente er sein Geld. Ich stellte mir immer vor, wie er abends zu Hause um den Esstisch patrouillierte und seiner Frau mit dem Lineal auf die Finger klopfte, wenn sie nicht gerade saß. Mit ihm zu leben musste die Hölle gewesen sein. Natürlich hieß er nicht wirklich Mr. Toerag.
8
Bei strahlendem Sonnenschein fuhr ich durch den frühen Morgen. Hier und da tauchte die Straße ein in dichte Kiefernwälder und führte vorbei an zahlreichen Ferienhütten im Schatten der Bäume. Nur eine Autostunde weiter nördlich lag Atlanta. Die Leute in dieser Gegend versuchten offenkundig, aus ihrer Nähe zur Metropole Kapital zu schlagen. Ich kam durch ein Städtchen namens Pine Mountain. Dort schien es alles zu geben, was man sich in einem Ferienort im Inland nur wünschen konnte. Das Städtchen war hübsch und hatte nette Geschäfte. Nur einen Berg gab es dort nicht, was in
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