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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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schienen Schwarze und Weiße hier weitaus besser miteinander auszukommen. Ich sah, wie sie an Bushaltestellen miteinander plauderten, und beobachtete, wie eine schwarze und eine weiße Krankenschwester nebeneinander in einem Auto saßen. Sie gingen miteinander um wie alte Freundinnen. Alles in allem wirkte die Atmosphäre hier wesentlich entspannter als in Mississippi.
    Ich fuhr weiter, durch eine hügelige, unbebaute Landschaft. Abgesehen von einigen Baumwollfeldern, sah ich im strahlenden Sonnenschein überwiegend grünes Weideland. Am späten Nachmittag, fast schon am frühen Abend, erreichte ich Tuskegee, Sitz des Tuskegee Institute – Amerikas führendes College für Schwarze. Es wurde von Booker T. Washington gegründet und von George Washington Carver weitergeführt. Gleichzeitig zählt Tuskegee zu den ärmsten Bezirken Amerikas. Zweiundachtzig
Prozent der Bevölkerung sind Schwarze. Mehr als die Hälfte der Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Fast ein Drittel von ihnen verfügt bis heute nicht über sanitäre Anlagen innerhalb ihrer Wohnungen. Das ist wirkliche Armut. Dort, wo ich herkomme, gilt man als arm, wenn man sich keinen Kühlschrank leisten kann, der in der Lage ist, Eiswürfel zu produzieren, oder wenn man ein Auto fährt, dessen Fenster sich nicht automatisch öffnen und schließen lassen. Ein Haus ohne fließendes Wasser liegt für die meisten Amerikaner nicht im Bereich des Vorstellbaren.
    Am seltsamsten berührte mich in Tuskegee, dass die Stadt absolut schwarz war. Ansonsten war es in jeder Hinsicht eine typisch amerikanische Kleinstadt – nur eben arm und heruntergekommen, voller zahlloser mit Brettern verrammelter Ladenfassaden. Doch jeder Mensch in jedem Auto, jeder Fußgänger, jeder Ladenbesitzer, jeder Feuerwehrmann, jeder Briefträger, jede Menschenseele war schwarz. Nur ich nicht. Noch nie habe ich mich so beklommen, so sichtbar gefühlt. Mir wurde plötzlich bewusst, wie sich ein Schwarzer in North Dakota fühlen musste. Ich hielt vor einem Burger King, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Unter den etwa fünfzig Gästen war ich der einzige Weiße, doch niemand schien das zu bemerken. Oder es kümmerte sich niemand darum. Es war ein sonderbares Gefühl – und, wie ich zugeben muss, eine ziemliche Erleichterung, wieder auf dem Highway zu sein.
    Ich fuhr weiter nach Auburn, zwanzig Meilen nordöstlich. Auch Auburn ist eine Stadt mit einem College und etwa so groß wie Tuskegee, doch der Kontrast hätte kaum krasser sein können. Die Studenten von Auburn waren weiß und reich. Einer meiner ersten Eindrücke war der Anblick einer Blondine, die in einem nachgebauten Duesenberg an mir vorbeirauschte. Das Auto musste ihren Daddy wohl so um die 25 000 Dollar gekostet haben. Es handelte sich offensichtlich um ein Geschenk zur erfolgreich bestandenen Abschlussprüfung. Hätte ich schnell
genug laufen können, um mit dem Wagen Schritt zu halten, wäre es mir eine Freude gewesen, an seiner Längsseite zu urinieren. So unmittelbar nach der Armut von Tuskegee empfand ich hier eine eigentümliche Scham.
    Nichtsdestoweniger machte Auburn einen angenehmen Eindruck. Eigentlich habe ich College-Städte immer gemocht. Fast nirgendwo sonst in Amerika verwischt sich die beschauliche Lebensart einer Kleinstadt auf so vorteilhafte Weise mit der Kultiviertheit einer Großstadt. Im Allgemeinen findet man hier nette Bars und Restaurants, interessante Geschäfte und eine alles in allem weltoffenere Atmosphäre. Und die Gewissheit, von 20 000 jungen Menschen umgeben zu sein, die hier die besten Jahre ihres Lebens verbringen, tut ein Übriges für das allgemeine Wohlbefinden.
    Zu meiner Zeit interessierten sich Studenten in erster Linie für Sex, Drogen, Straßenkrawalle und für ihr Studium, wobei sie sich nur dann darauf besannen, für ihr Studium zu lernen, wenn keine der drei erstgenannten Möglichkeiten in Aussicht stand. Aber immerhin, es wurde gelernt. Heutzutage scheinen sich amerikanische Studenten hauptsächlich dem Sex und der Gestaltung ihres Outfits zu widmen. Ich bezweifle, dass das Lernen in ihrem Leben eine allzu große Rolle spielt. So ging denn auch vor wenigen Jahren ein Aufschrei der Empörung durch Amerika. Die Nation protestierte gegen die Welle der Ignoranz, die ihre Jugend erfasst zu haben schien. Auslöser der allgemeinen Entrüstung war eine Studie der Stiftung National Endowment for the Humanities. Sie hatte die Allgemeinbildung von 8000 Oberstufenschülern verschiedener Highschools

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