Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
spielen
lässt – genau genommen sieht er meinem Arm erstaunlich ähnlich, jedenfalls scheint er ebenso wenig muskulös zu sein. Über den unteren Teil der Halbinsel ziehen sich drei Straßen – die eine verläuft entlang der Nordküste, die andere entlang der Südküste und die dritte mitten durch das Landesinnere. Am Ellbogen bei Rock Harbor, dort, wo sich die Halbinsel verengt und abrupt gen Norden wendet, vereinen sich die drei Straßen zu einem langen Highway, der den Unterarm hinauf nach Provincetown in den Fingerspitzen führt. Auch in Provincetown wimmelte es von Touristen. Dort leben nur ein paar Hundert Menschen, doch im Sommer und an verlängerten Wochenenden wie diesem brechen sage und schreibe 50 000 Besucher über Provincetown herein. Nur eine Straße führt in die Stadt hinein, eine andere führt wieder hinaus. In der Stadt selbst durfte man nicht parken. Überall warnten Schilder vor den städtischen Abschleppwagen. Ich zahlte also ein paar Dollar, stellte den Wagen irgendwo j. w. d. zu Hunderten von anderen Autos und begab mich zu Fuß auf den langen Weg in die Stadt.
Provincetown ist eine auf Sand gebaute Stadt, umgeben von einer wogenden, nur von vereinzelten strohgelben Grasbüscheln durchsetzten Dünenlandschaft. Die Namen der Geschäfte und Motels – Windy Ridge Motel, Gale Force Gift Shop – legten die Vermutung nahe, dass der Wind hier eine dominierende Rolle spielt. Und tatsächlich wehte ständig Sand über die Straßen und sammelte sich in den Hauseingängen. Bei jedem Windstoß flog er einem in die Augen und überzog, was immer man gerade aß. Dort zu leben musste schrecklich sein. Vielleicht hätte Provincetown mir besser gefallen, wenn es sich etwas mehr Mühe gegeben hätte, hübsch zu sein. Doch einen Ort, in dem man sich so einseitig darauf konzentriert, den Touristen das Geld aus den Taschen zu ziehen, habe ich selten gesehen. Wo man auch hinsah, überall standen Eisdielen, Souvenirgeschäfte und Läden, die T-Shirts, Drachen und alles Drum und Dran für den Strand verkauften.
Ich bummelte ein Weilchen durch die Straßen, aß einen Hot Dog mit Senf und Sand, trank einen Kaffee mit sandiger Sahne, sah mir das Fenster eines Immobilienmaklers an und nahm zur Kenntnis, dass ein Haus in Strandnähe mit zwei Schlafzimmern für 190 000 Dollar einen Käufer suchte. Zur Ausstattung des Hauses gehörte immerhin ein Kamin und Sand, so viel das Herz begehrte. Die Strände sahen recht einladend aus, ansonsten konnte ich dem Städtchen jedoch keinen Reiz abgewinnen.
In Provincetown berührten die Pilgerväter anno 1620 zum ersten Mal amerikanischen Boden. Zum Gedenken an dieses Ereignis ließ man mitten in der Stadt einen dem Campanile ähnlichen Turm errichten. Kurioserweise landeten die Pilgerväter ganz und gar unfreiwillig auf Cape Cod. Sie waren auf dem Weg nach Jamestown in Virginia, verfehlten ihr Ziel aber um schlappe 600 Meilen. Ich halte das für eine beachtliche Leistung. Und hier ein weiteres Kuriosum: Sie hatten aus ihrer Heimat weder einen Pflug noch ein Pferd oder eine Kuh mitgebracht, nicht einmal eine einzige Angelschnur. Kommt Ihnen das nicht auch irgendwie töricht vor? Ich meine, wenn man in die Ferne zieht, um dort ein neues Leben anzufangen, macht man sich denn dann nicht vorher ein paar Gedanken, wie man sich dort versorgen will? Mögen die Pilgerväter auch keine guten Organisatoren gewesen sein, so waren sie doch clever genug, nicht länger als nötig in dem Gebiet um Provincetown zu bleiben. Bei der ersten Gelegenheit brachen sie in Richtung Festland auf. Genau das tat nun auch ich.
Ursprünglich hatte ich vor, mir auch Hyannis Port anzusehen, wo sich das ehemalige Sommerhaus der Kennedys befindet. Doch vor allem in der Umgebung von Woods Hole, dem Ableger der Fähre nach Martha’s Vineyard, war der Verkehr so dicht, dass ich beschloss, auf diesen Abstecher zu verzichten. Vor jedem Motel, an dem ich vorbeikam – und es waren Hunderte –, verkündete ein Schild, dass alle Zimmer belegt seien. Ich fuhr auf die Interstate 93 und wollte ihr eine Weile folgen, bis Cape
Cod weit genug hinter mir lag und ich von neuem nach einem Zimmer suchen konnte. Aber ehe ich mich’s versah, war ich in Boston, mitten in der abendlichen Rushhour. Das Freeway-System von Boston ist der reine Wahnsinn. So etwas kann sich nur jemand ausgedacht haben, der seine Kindheit damit verbracht hat, Modelleisenbahnen ineinanderkrachen zu lassen. Alle paar hundert Meter löste sich die Fahrspur
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