Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
inzwischen geändert zu haben. Auf dem Highway waren jede Menge Autos und Wohnmobile unterwegs, und im Radio redeten sie ständig von Dingen wie der Zahl der Verkehrstoten, mit der an »diesem Columbus-Day-Wochenende« zu rechnen war. (Wieso wissen die das eigentlich immer im Voraus? Existieren da geheime Quoten?)
Ich konnte es kaum erwarten, New England zu erreichen, so sehr freute ich mich auf die Herbstfarben der Wälder. Außerdem sind die Staaten New Englands klein und abwechslungsreich, und das Autofahren ist nicht so schrecklich langweilig wie in all den anderen amerikanischen Staaten, und seien sie noch so schön – so dachte ich. Doch das war ein Irrtum. Natürlich. Die Staaten New Englands sind zweifellos winzig – Connecticut ist ganze achtzig Meilen breit, und Rhode Island ist kleiner als London –, aber sie sind voll gestopft mit Autos, Menschen und Städten. Connecticut schien ein einziger Vorort zu sein. Ich fuhr in Richtung Litchfield über die US 202, die auf meiner Karte als landschaftlich reizvolle Straße gekennzeichnet war. Die Landschaft war tatsächlich reizvoll, jedenfalls reizvoller als in einem Vorort, wenn auch nicht gerade spektakulär.
Vielleicht hatte ich zu viel erwartet. In den Filmen, die in den vierziger Jahren spielten, fuhren die Leute am Wochenende immer
nach Connecticut – ein ländliches, herrlich grünes Idyll, mit leeren Straßen und malerischen Häuschen auf den Lichtungen der Wälder. Doch hier sah ich nichts als Bungalows mit Garagen, in die drei Autos hineinpassten, Rasenflächen, auf denen Wassersprenger herumwirbelten, und alle sechs Häuserblocks ein Einkaufszentrum. Litchfield selbst war dagegen wunderschön, der Inbegriff eines Städtchens in New England, mit einem alten Gerichtsgebäude und einem weitläufigen, hügeligen Park, der eine Kanone und ein Mahnmal für die Toten der Kriege beherbergte. An der einen Seite des Parks standen hübsche Geschäfte, während an der anderen eine große Kirche mit einem weißen Turm im Schein der Oktobersonne erstrahlte. Dazwischen mischte sich das Gold und Zitronengelb des Herbstlaubes. Das kam meinen Vorstellungen schon wesentlich näher.
Ich stellte den Wagen ab und schlenderte durch das von den Bäumen gefallene Laub quer durch den Park. Jenseits des Parks säumten stattliche Wohnhäuser inmitten ausgedehnter Rasenflächen die Straßen, jedes einzelne eine Variation desselben Themas: weitläufige Schindelbauweise mit schwarzen Fensterläden. An vielen Häusern gaben Holztafeln Aufschluss über ihre Vergangenheit: »Oliver Boardman 1785«; »1830 Col. Webb«. Über eine Stunde stöberte ich durch die Straßen. Litchfield eignete sich bestens zum Herumstöbern.
Anschließend fuhr ich über kleine Nebenstraßen gen Osten. Es dauerte nicht lange, und ich befand mich in den Vororten von Hartford, dann in Hartford selbst und schließlich in den Vororten auf der anderen Seite von Hartford. Und schon war ich in Rhode Island. Ich hielt neben dem Schild WELCOME TO RHODE ISLAND und starrte auf die Karte. Sollte das schon alles gewesen sein, was Connecticut zu bieten hatte? Ich überlegte, noch einmal zurückzufahren und den Staat auf einer anderen Route zu durchqueren. Das konnte einfach nicht alles gewesen sein! Aber es war schon spät, und so fuhr ich weiter, in einen dichten, weitaus vielversprechenderen Kiefernwald hinein.
In Anbetracht der mikroskopischen Größe von Rhode Island schien es Ewigkeiten zu dauern, bis ich das Ende des Waldes erreicht hatte. Als sich dann die Narragansett Bay vor mir ausbreitete – eine mit Inseln übersäte Bucht, die annähernd ein Viertel der bescheidenen Fläche des Staates ausmacht –, war es fast dunkel, und die Lichter der entlang der Küste verteilten Dörfer funkelten zu mir herüber.
Bei Plum Point spannte sich eine lange Brücke über die Meerenge und führte auf die Insel Conanicut, die so flach und finster wie eine Leiche auf dem Wasser trieb. Ich überquerte die Brücke und fuhr ein wenig auf der Insel herum. Doch inzwischen war es zu dunkel, um noch etwas von der Landschaft zu sehen. An einer Stelle, an der das Wasser bis fast an die Straße reichte, parkte ich den Wagen und ging an den Strand. Es war eine mondlose Nacht, und ich hörte das Meer, bevor ich es sehen konnte. Es plätscherte bedächtig und rhythmisch vor sich hin. Ich stand am Wasser und ließ den Wind mit meiner Jacke spielen. Die Wellen fielen wie erschöpfte Schwimmer an den Strand. Ich blickte lange auf das
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