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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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unter mir in Luft auf und ging in eine andere Spur rechts oder links von mir über. Manchmal mündeten auch drei Spuren gleichzeitig ineinander. Das war kein Straßennetz, das war Hysterie auf Rädern. Jeder Fahrer saß mit besorgter Miene hinter seinem Lenkrad. Ich habe noch nie erlebt, dass Menschen so angestrengt darum bemüht waren, nicht miteinander zu kollidieren. Und dies war ein Samstag. Wie mag es dort wohl an einem Wochentag zugehen?
    Boston ist eine große Stadt mit zahllosen Vororten, die sich bis nach New Hampshire erstrecken. Ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war, fand ich mich am späten Abend in einem dieser seelenlosen Vororte wieder. An den Kreuzungen der Interstate Highways sprießen sie aus dem Boden, diese Inseln aus Motels, Tankstellen, Einkaufszentren und Fastfood-Restaurants und sind so hell erleuchtet, dass sie bis ins Weltall zu sehen sein müssen. Dieser Ort befand sich in der Region Haverhill. Ich nahm ein Zimmer in einem Motel 6 und verspeiste ein fettes Brathähnchen und matschige Pommes frites in Denny’s Restaurant gegenüber. Es war alles andere als ein gelungener Tag, doch ich weigerte mich, deprimiert zu sein. Nur ein paar Meilen entfernt lag New Hampshire. Dort würde das wirkliche New England beginnen. Es konnte nur bergauf gehen.

16
    In meiner Vorstellung bestand New England aus Ahornbäumen, weißen Kirchen und alten Männern in karierten Hemden, die in ländlichen Gemischtwarenläden um eiserne Öfen hockten, sich Geschichten erzählten und in die Keksdose spuckten. Doch was das südliche New Hampshire betraf, war ich offensichtlich falsch informiert. Dort gab es nichts als elenden, modernen Kommerz – Einkaufszentren, Tankstellen, Motels. Hier und da stand eine weiße Kirche oder ein Schindelhaus inmitten von Burger Kings und Texaco-Tankstellen. Doch statt die Hässlichkeit zu mildern, verstärkten sie sie nur, denn zu eindringlich erinnerten sie daran, was wir zu Gunsten von Drive-thru-Restaurants und billigem Benzin geopfert haben.
    Bei Salisbury fuhr ich auf die alte Route 1. Ihr wollte ich die Küste hinauf durch Maine folgen. Wie der Name vermuten lässt, ist die Route 1 die Mutter aller amerikanischen Highways, die erste Bundesstraße. Sie verläuft über 2500 Meilen von der kanadischen Grenze bis zu den Florida Keys und war vierzig Jahre lang der meistbefahrene Highway entlang der Ostküste. Sie verbindet die großen Städte des Nordens – Boston, New York, Philadelphia, Baltimore, Washington – mit den Stränden und Zitrushainen des Südens. In den dreißiger und vierziger Jahren muss eine Autofahrt von Maine nach Florida herrlich gewesen sein – durch all die wunderbaren Städte, über die Hügel von Virginia und die grünen Berge der Carolinas, und mit jeder Meile wurde es wärmer. Bis in die sechziger Jahre hatte der Verkehr auf der Route 1 dann so stark zugenommen, dass sie unrentabel
wurde – ein Drittel aller Amerikaner lebt innerhalb von zwanzig Meilen im Umkreis der Straße. Damit der Verkehr entlang der Küste wieder ins Rollen kam, baute man die Interstate 95, die durch eine fast gleichförmige Landschaft führt. Heute gibt es die Route 1 noch immer, doch eine Fahrt über ihre gesamte Länge würde Wochen dauern. Sie ist inzwischen zu einer verstädterten Nahverkehrsstraße geworden, zu einer endlosen Meile von Einkaufszentren.
    Ich hatte gehofft, hier, im ländlichen New England, hätte sich die Route 1 noch etwas von ihrem ursprünglichen Charme bewahrt, doch das schien nicht der Fall zu sein. Ich fuhr durch den Nieselregen dieses kühlen Morgens und fragte mich, ob ich das wahre New England jemals finden würde. Bei Portsmouth, einem kleinen Städtchen, das man getrost vergessen kann, überquerte ich eine eiserne Brücke über den grauen Piscataqua River. Am anderen Ufer lag Maine. Durch das rhythmische Auf und Ab der Scheibenwischer betrachtet, machte auch Maine nicht gerade einen vielversprechenden Eindruck. Hier wie anderswo wucherten Einkaufszentren und graue Wohnsiedlungen.
    Hinter Kennebunkport lösten schließlich Wälder die Vorstadtlandschaft ab. Stellenweise ragten gewaltige braune Felsbrocken aus dem Boden und erinnerten an unterirdisch lebende Kreaturen, die an die Erdoberfläche kamen, um Luft zu schnappen. Gelegentlich erhaschte ich einen Blick vom Meer – eine graue Ebene, die kalt und trostlos dalag. Ich fuhr und fuhr und rechnete jeden Augenblick damit, das sagenhafte Maine vor mir zu erblicken, das Maine der

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