Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
launische Meer hinaus, über die schwarze Weite des Atlantik, über diese Furcht erregenden, sturmumtosten Urtiefen, aus denen alles Leben gekrochen war und wohin es ohne Zweifel eines Tages zurückkehren wird, und ich dachte: »Jetzt könnte ich einen Hamburger verdrücken.«
Am nächsten Morgen fuhr ich nach Newport, Amerikas erste Adresse in Sachen Segelsport und Austragungsort des America’s Cup. Die Altstadt sah aus, als hätte man sie erst im Laufe der letzten Jahre aufgebaut. Vor den Läden entlang den Straßen baumelten hölzerne Schilder, auf denen flotte Namen zu lesen waren, die sich allesamt auf die Seefahrt bezogen, wie »The Flying Ship« und »Shore Thing«. Der Hafen war schon fast zu malerisch. Hunderte von weißen Yachten und abgetakelten Masten schaukelten unter einem Himmel, in dem sich die Möwen tummelten. Rund um die Altstadt reihte sich jedoch ein unansehnlicher
Parkplatz an den nächsten, und eine viel befahrene, vierspurige und von spindeldürren Bäumen gesäumte Straße, mehr ein Freeway als eine normale Stadtstraße, trennte das Hafenviertel von der Stadt. Auch einen kleinen Park gab es in Newport, den Perrott Park, doch der war ungepflegt und voller Graffiti. Diese Art von Vernachlässigung hatte ich bisher noch in keiner Stadt vorgefunden. Die meisten amerikanischen Kleinstädte präsentieren sich in makellosem Zustand. Newport überraschte mich daher, insbesondere, wenn man bedenkt, wie wichtig der Tourismus für die Stadt ist. Entlang der Thames Street sah ich schöne, alte Häuser, in denen einst die Schiffskapitäne lebten. Nun kämpften diese Häuser einen aussichtslosen Kampf gegen Schmutz und Hundekot und gegen die allseits wuchernden Tankstellen und Gebrauchtwagenhändler. Es war ein trauriger Anblick. Den Menschen, die hier lebten, schien es gleichgültig zu sein, wie es in ihrer Stadt aussah. Vielleicht merkten sie auch nicht, wie heruntergekommen sie inzwischen war. Irgendwie erinnerte mich Newport an London.
Ich fuhr zum Fort Adams State Park an der gegenüberliegenden Seite der Bucht. Von dort betrachtet, zeigte Newport ein ganz anderes Gesicht, als wäre es eine andere Stadt. Aus Unmengen von Bäumen ragten nadelspitze Kirchtürme und viktorianische Dächer hervor, während auf den sanften Wellen der im Sonnenschein glänzenden Bucht zahllose Segelboote schaukelten. Ich genoss den Anblick und fuhr schließlich die Küstenstraße entlang, vorbei an Brenton Point. Dann bog ich in die Bellevue Avenue, um mir die prachtvollsten Sommerhäuser anzusehen, die je gebaut wurden. Sie stehen zu beiden Seiten dieser und vieler benachbarter Straßen.
Zwischen 1890 und 1905 versuchten hier die reichsten Familien Amerikas – die Vanderbilts, die Astors, die Belmonts und wie sie alle hießen –, sich mit der Pracht ihrer Häuser gegenseitig zu übertrumpfen. Ihre Villen, die sie Cottages nannten, reihen sich entlang der beeindruckenden Felsküste auf einer Länge
von einer halben Meile aneinander. Die meisten sind mehr oder weniger französischen Schlössern nachempfunden und mit Möbeln, Marmorplastiken und Wandteppichen voll gestopft, die sich ihre Erbauer unter ungeheurem Kostenaufwand aus Europa kommen ließen. Während einer nur sechs bis acht Wochen dauernden Saison gaben die Hausherrn gewöhnlich 300 000 Dollar für die Unterhaltung ihrer Gäste aus. Ungefähr vierzig Jahre lang wurden nirgendwo auf der Welt so viele Prestigekäufe getätigt wie hier.
Die meisten Villen dienen heute als Museen, vor denen trotz der horrenden Eintrittspreise beachtlich viele Menschen Schlange standen (erinnern wir uns, es war das Wochenende am Columbus Day). Von der Straße aus konnte man kaum etwas sehen. Weil das gemeine Volk ihnen dabei zuschauen könnte, wie sie auf dem Rasen sitzen und ihr Geld zählen, hatten die Besitzer ihre Grundstücke mit dichten Hecken und hohen Mauern umgeben. Zufällig entdeckte ich einen asphaltierten Fußweg entlang der Felsküste, von dem aus ich die Rückseiten der Luxusvillen bestaunen konnte, während sich mir auf der anderen Seite eine Schwindel erregende Aussicht über den tief unter mir gegen die Felsen krachenden Ozean bot. Ich hatte den Weg fast für mich allein und folgte ihm, mit offenem Mund vor mich hin staunend. Eine solche Ansammlung von Prachtbauten, eine so ausschweifende Architektur hatte ich noch nicht gesehen. Jedes Haus sah aus wie eine Kreuzung zwischen einer Hochzeitstorte und einem Parlamentsgebäude. Da ich wusste, dass die
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