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Straub, Peter

Straub, Peter

Titel: Straub, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fremde Frau
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Gänsehaut auf ihren Oberarmen. »Es könnte von Papa sein. Er hat seit über einer Woche nicht mehr geschrieben, und ich bin sicher, er möchte uns alle wissen lassen, wie sehr er New York vera b scheut. « Sie lächelte in sich hinein, dann mich an, als hätte sie es sich gerade überlegt, und ging aus dem Schlafzimmer, w o bei sie die Tür hinter sich zumachte.
    Nach wenigen Sekunden kamen die beiden ins Schlafzi m mer. Morgan hielt einen blauen Brief in der Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger, ihr Gesicht hatte e in en Ausdruck äußersten Widerwillens, ein Anzeichen großer Belastung, das ich gut an ihr kenne. Joanie kam hinter ihr herein und schlich zu einem Sessel beim Fenster; sie hoffte, nicht gesehen zu werden, und war ganz offensichtlich sehr neugierig.
    »Das ist deine Post «, sagte Morgan. »Ich hätte den Brief beinahe geöffnet, entschied mich dann aber doch, es nicht zu tun. «
    Ich warf Joanie einen giftigen Blick zu, und sie wand sich, weil sie bei diesem Voyeurismus erwischt worden war, aber dann schlug sie nachdrücklich die Beine übereinander: sie ha t te nicht die Absicht, sich vertreiben zu lassen. Morgan warf den Brief aufs Bett.
    Worauf wartete sie? Wenn ich den Brief einfach öffnete und las – mein erster Impuls –, dann würde sie denken, ich wäre ihrem Leid gegenüber gleichgültig. Immerhin hatte sie das Drama arrangiert und verdiente ihren Augenblick. Das war auch der Grund für ihre Bemerkung: Ich konnte mir nicht vo r stellen, dass Morgan jemals eines anderen Post öffnen würde. In dieser Sekunde des Zauderns , während ich das rechteckige Ding auf dem zerwühlten Laken an meinem Knie betrachtete, wurde ich mir völlig über Morgans Charakter klar – sie war Joanie so ähnlich, und mir wiederum auch: Morgans Darbi e tung war ein Test, ob ich mich immer noch an die Regeln ha l ten würde. Ich konnte nur auf eine mögliche Weise reagieren.
    »Du kannst ihn lesen, wenn du möchtest «, sagte ich.
    Joanie sah auf. Sie hatte mit etwas Heftigerem gerechnet. Morgan bewegte die Lippen ein klein wenig: damit war sie zufrieden. »Wenn du es möchtest «, sagte sie.
    »Ich denke, dann öffne besser ich ihn «, sagte ich und hatte damit die Runde gewonnen. Ich riss den Umschlag auf und holte ein einziges, dreifach gefaltetes Blatt heraus.
     
    Lieber Owen,
    ich weiß, normalerweise schreibt man in diesem Zustand keine Briefe, aber ich fühle mich irgendwie unfertig, und Du weißt, wie ich mich in einer solchen Lage verhalte. Ich fühle mich veranlasst , Dir das zu schreiben, vielleicht we r fe ich den Brief weg, wenn ich fertig bin.
    Also: Ich werde morgen das Krankenhaus verlassen, g e heilt, aber in Binden und Verbänden wie ein Ding aus e i nem Film. Mein Mann möchte, dass ich in Paris bleibe – er möchte sich um mich kümmern, glaube ich. Diesesmal werde ich es zulassen. Die meisten Dinge aus London werden uns nach Paris geschickt. Die Ikone, die ich in D u blin gekauft habe, wird Magruder zugeschickt werden: Seiner neuen Lage wird sie angemessen sein, und ich kann sie nicht mehr ertragen. Ich werde ihm auch einen Brief schreiben und versuchen, ihm zu erklären, in was er da hineingestolpert ist. Weißt Du, Du bist immer noch ein Teil von mir.
    Was den Rest anbelangt, lies den letzten Abschnitt von Anna K. Ich werde ihn Dir herausschreiben, so dass Du ihn lesen musst . Hast Du das mit mir gelernt? Zum ersten Mal bin ich verwirrt, was Dich anbelangt. So sollte es sein, fl ü stert eine Stimme in meinem Ohr
    – Bleib ehrlich.
     
    Auf einem weiteren Stück Papier stand folgendes geschrieben: »Ich werde immer noch außerstande sein, die Gründe zu ve r stehen, weshalb ich bete, und ich werde dennoch weiter beten – aber mein Leben, mein ganzes Leben, ist nun nicht mehr ohne Bedeutung für mich, unabhängig davon, was mir wide r fahren kann, sondern jede einzelne Minute hat nun eine posit i ve Bedeutung der Güte, durch die ich die Kraft habe, es zu erdulden. « Drei Zeilen unter diesen Abschnitt hatte sie g e schrieben: »Ich denke, daran können wir beide glauben. «
    Morgan sah mich an, ihre Augen skandierten mein Gesicht, als würde sie die Zeitungsmeldung über eine Katastrophe lesen.
    »Nichts weiter «, sagte ich. »Lediglich eine Art Lebewohl. « Als ich ihr den Brief hinhielt, zögerte sie, ihr Gesicht bewegte sich, dann nahm sie ihn sehr behutsam von mir entgegen.
    »Ich glaube, ich ziehe mich besser an «, sagte Joanie und ging hinaus, ohne einen von uns

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