Straub, Peter
treppe, die sich zum Balkon an dieser Seite emporwindet, sitzt ein kleines Mädchen mit olivfarbener Haut. Direkt unter ihr sind zwei morsche Stufen herausgebrochen, so dass dort ein dunkles, gähnendes Loch in der Treppe zu sehen ist. Das Mädchen hat die Hände auf den Knien liegen und lächelt wie ein freudig erregtes Tier auf uns herab. »Bonjour, Monsieur et Madame. «
Die Frau nimmt ihre dunkle Brille ab und lächelt zu dem Mädchen hinauf. »Bonjour, Charte, bonjour. « Offensichtlich entzückt das Kind sie.
Das Mädchen schreitet zögernd über die Lücke in der Tre p pe, streckt sich zur nächsten Stufe und eilt dann die restlichen bis zum Boden herunter. Dann steht sie auf den stumpfen Ste i nen und sieht uns durchdringend und freundlich an.
Mein Französisch ist rudimentär und fehlerhaft. Ich lächle und versuche, mir eine andere Konversationsphrase als › Guten Tag ‹ zu überlegen. Das Mädchen kommt einen kleinen Schritt auf uns zu, und ich sehe, dass sie bloße Füße hat und in einen weiten roten Rock gekleidet ist, der schon häufig geflickt wo r den ist. Kleine runde Ohrringe baumeln unter ihren Ohrläp p chen. Die beabsichtigte Wirkung dessen, wie von Lippenstift bei einer Zwölfjährigen, ist die, sie jünger, verwundbarer au s sehen zu lassen. Aber trotz aller Verwundbarkeit scheint sie sehr robust zu sein, als könnte sie sich ohne zu wanken in den heftigsten Wind stellen.
Das Französisch der Frau ist flüssig und schnell, ein Pariser Akzent: sie hat, sagte sie mir, jahrelang, jahrelang ‹ in Paris gelebt. Sie fragt das Mädchen, wo es wohnt. Das Mädchen hebt einen dünnen dunklen Arm und deutet zum Balkon im dritten Stock hinauf, wo sie saß. Ich gehe rückwärts auf den Hof, um besser sehen zu können. Eines der Fenster neben dem Balkon ist halb herausgefallen, das restliche Glas ragt gezackt aus dem Rahmen. Wäsche hängt schlaff über dem Holzgelä n der des Balkons, Lumpen aus rotem und blauem Stoff.
Die Frau beugt sich hinab und kauert auf den Fersen, um mit dem Kind zu sprechen. Ich sehe, wie sie ein paar Francs aus der Tasche holt und sie dem Mädchen gibt, das schüchtern und erfreut zugleich den Kopf beugt. Wieder erinnert sie mich an ein aufgewecktes, gelehriges Tier, für das der staubige Hof und die hohen Wände der Mietskaserne ein unzureichender Käfig sind. Die Stimmen der beiden sind ein leises, aufgere g tes Gurren i n d em warmen Hof. Ich höre lediglich ein paar unterscheidbare Worte der Unterhaltung: »… Mama … sehr alt … Spiele … allein … ja, Glück. «
»Moi aussi «, sagt die Frau und drückt sie an sich. »Moi aussi. « Sie steht strahlend auf und streicht wieder mit den Händen über den Bauch, dieselbe glättende Bewegung, die ich sie auch schon im Cafe habe ausführen sehen.
Sie kommt auf mich zu, das Mädchen an der Hand, ihr s a tinartiges Kleid wogt wie Getreide in der Sonne. Einen A u genblick lang stehen wir alle drei da, mit unseren Händen verbunden. Dann: »Gehen wir «, sagt sie zu mir. »Die and e ren werden bald hier sein, und es wird ihnen vielleicht nicht gefallen, dass wir uns mit ihr unterhalten haben, während sie fort waren. « Bevor ich ihre Hand loslasse, spüre ich einen winzigen Strom des Entsetzens durch uns pulsieren. Das G e fühl verschwindet auf der Stelle, als wir die Hände sinken lassen.
Als meine Hand sie freigegeben hat, läuft das kleine Mä d chen die morsche Treppe zu unserer Rechten empor und taucht auf dem Balkon wieder auf. Die Frau winkt ihr, wie ich auch, schüttelt ihr Haar zurück und geht zu der dunklen Tür in der Wand, die wir geöffnet haben. Sie beugt sich hinab und streckt den Kopf in die Öffnung. Ich helfe ihr, indem ich mich ebe n falls niederbeuge und ihren ausgestreckten rechten Arm stütze. In diesem Augenblick, während wir in mehr oder weniger li n kischen und unschuldigen Gesten gefangen sind, ruft das Mädchen aufgeregt vom Balkon herab: »Monsieur, Monsieur! Avez-vous jamais ete ä la guerre? Monsieur! «
DREI
1
Morgan kam ins Badezimmer, als ich mich rasierte und ve r suchte, die beiden Enden meines Schnurrbarts anzugleichen. Es war ein sonniger Junimorgen in Camden Town, und im Spiegel konnte ich das Licht sehen, welches den Garten ve r zauberte. Es brannte ein wenig in meinen Augen, summte wie das Feuer in einem elektrischen Stromkreis. Morgan war b e reits vollständig angekleidet, etwas, das mich stets sexuell e r regte, wenn ich nur einen Pyjama anhatte oder nackt war,
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