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Straub, Peter

Straub, Peter

Titel: Straub, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fremde Frau
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schloss doch noch, aber hinter allem, was dann geschah, sah ich das Bildnis dieser frühen Jahre der Stabilität. Mein Vater war dreiundvierzig, als erstarb, erstürzte bei einer Fuchsjagd unglücklich vom Pferd. Sie brachten ihn nach Ha u se, und schlagartig war alles anders.
    Ich bin seine Tochter, aber ich habe keinen Glauben. F in es Tages hob ich in der Schule beim Gebet den Kopf und sah die Reihen geneigter Nacken, und da wusste ich, dass in jedem Kopf Träume von Jungs weilten, oder der neue Mathemati k lehrer, oder die Beugung eines lateinischen Verbums, oder schlicht und einfach große leere Stellen der Langeweile: jedes einzelne davon schien mir wichtiger zu sein als die Worte des Gebets, das wir sprechen sollten. Am nächsten Tag fragte mich eine Freundin, ob ich an Gott glaubte. Ich sagte: Selbs t verständlich nicht. ‹ Mir war, als wäre ich aus der Dunkelheit ins Tageslicht getreten.
    Die Ikone, die im Nachmittagslicht so böse funkelt, scheint mir bedeutungsvoll zu sein. Bedeutsamer als die Dinge, für die sie steht. Mein ganzes Leben lang habe ich mich tiefer in die Welt vorgearbeitet, die ich entdeckte, als ich damals beim G e bet den Kopf hob. Wenn ich jetzt den Kopf hebe, sehe ich Dich vor mir, der Du so neu für mich bist. Vielleicht bin ich Jüdin geworden – ich meine, vielleicht lebe ich jetzt in einer geläuterten Welt. Die Welt, die nach einem Schock beginnt, wie wir ihn erlebt haben: wenn der Körper zu denken b e ginnt. «
     
    Der Brief kam zwei Tage, nachdem wir uns im Hotelpub g e troffen hatten, mit der Nachmittagspost. Wir hatten uns am nächsten Tag auf einen Drink getroffen und saßen, wie zuvor, am Tisch und redeten einander in die Gesichter, bevor wir auf ihr Zimmer gingen. Am nächsten Morgen war ich früh ausg e gangen und hatte zwei Großhändler angerufen, um Abnehmer für unser Produkt zu finden. Während ich in den Büros der Händler saß, konnte ich spüren, wie Tausende Volt durch mich hindurchflossen und die Atmosphäre rings um mich herum aufluden. Ich war gründlich, überzeugend, nachdrücklich, E i genschaften, mit denen ich das Geschäft meines Vaters erfol g reich fortgeführt hatte: Aber gleichzeitig strahlte ich, ein Ene r giebündel. Als der zweite de r b eiden Männer, mit denen ich verhandelte, mich ins Privatbüro seines Ladens einlud, um etwas zu trinken, entfaltete der Alkohol auf der Stelle seine Wirkung und verdampfte in meinem System. Um eins gene h migte ich mir, zur Feier der Übereinkunft, die wir geschlossen hatten, einen weiteren Drink, und wieder hatte ich das Gefühl, als würde der Alkohol in mir sofort zu reiner Energie verbre n nen: ich aß mein Mittagessen in einer Trance körperlichen Vergnügens, Gabel für Gabel. Mein schwerfälliger Körper wurde immer leichter.
    Als ich vom Speisesaal zu den Fahrstühlen ging, sprach mich der Empfangschef an: »Für Sie wurden zwei Briefe a b gegeben, Sir. « Ich nahm die beiden Umschläge aus seiner Hand: einer war blau, der andere weiß. Meine beiden Frauen. Ich spürte, wie meine Brust eingeschnürt wurde. »Danke «, sagte ich und schob die Briefe in die Brusttasche.
    In meinem Zimmer öffnete ich den blauen Luftpostu m schlag zuerst und nahm ein Blatt heraus, das mit Morgans pr ä ziser Handschrift vollgeschrieben war.
     
    Lieber Owen,
    der Titel des Gemäldes vom heutigen Tage könnte Zwei Köter in Landschaft heißen: ein ernstes Bild in Grau und Braun, ein Doppelporträt des Hundes und von mir. Wir sind beide einsam und bissig. Bin froh, dass Du etwas zum Wohnen gefunden hast, › Unte r künfte ‹ , wie Du schreibst. (Ich weiß, man sagt dazu so; vielleicht bedeutet das, dass Du Dich anpasst .) Ich ho f fe, dass Du die erstbeste nimmst. Später können wir uns immer noch nach etwas Besserem umsehen. Und da du ohnehin vorhast, alsbald nach London zu ziehen, dürfte es keine große Rolle spielen, ob unsere › Unte r kunft ‹ Wärmespeicher hat oder nicht, was immer das auch sein mag.
    Mama und Papa lassen schöne Grüße ausrichten. In i h rem letzten Brief hat Joanie geschrieben, dass sie ve r rückt wird, aber das ist ja nichts Neues mehr. (Ich wü r de dennoch gerne hinfahren, um sie zu sehen.) Mutter möchte einkaufen gehen, und der Hund bellt, daher h ö re ich jetzt auf und schreibe morgen einen langen Brief. Alles Liebe,
    Morgan – die Dich schrecklich vermisst
     
    Ich legte Morgans Brief auf das Bett, dann steckte ich ihn wi e der in den blauen Umschlag. Ich griff nach dem weißen U

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