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Straub, Peter

Straub, Peter

Titel: Straub, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fremde Frau
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m schlag und öffnete ihn. Ein dicker Stapel beigefarbenen Brie f papiers quoll heraus.
     
    »Dennoch, wenngleich ich es mit aller Freude und Dankba r keit akzeptieren kann, wie vollkommen seltsam ist das doch alles! Ich kenne meinen Mann schon seit Jahren, und ich habe ihn in all diesen Jahren geliebt; ich habe ihn ohne Zweifel g e liebt, und ohne ihm jemals untreu geworden zu sein. Weißt Du, Frauen sind viel treuer als Männer im allgemeinen gla u ben. Aber jetzt scheint es mir, als wäre meine Liebe zu ihm wie eine bewusst gefällte Entscheidung. Sie scheint eine Frage des Kopfes zu sein. Nein, das ist unfair. Ich liebe meinen Mann mit dem Herzen. Aber Dich liebe ich mit meinem ga n zen Inneren – mit meinen Eingeweiden.
    Komm früh am Freitag. Ich will Dich schon wieder. Ich b e te Dich an. «
     
    Abschweifung, Abschweifung von der Form. Ich habe mir oft überlegt, ob mein langes Abenteuer mit der Frau eine B e deutung hat, das konzeptuelle Aufblitzen einer Bedeutung. Wo, fragte ich mich, lag der Hinweis, der mein Leben mit der Frau auflösen und es wieder in eine sinnvolle Form bringen würde?
    Verlegen möchte ich anmerken, dass ich diese Unsicherheit einmal auf die bewusste Ebene erhob, sie aussprach. Sie und ich lagen im Bett, und ich griff nach oben, um den Vorhang vor dem Fenster zurückzuziehen, das sich neben dem Bett b e fand. Wir sahen hinaus auf ein Gewirr von Straßen, Lichtern und glänzenden Hotelfenster. »Mich verwirrt die Tatsache, dass ich nicht weiß, was das alles bedeutet «, sagte ich. Was ich meinte, glaube ich, war fadenscheinig: Wie würde mich dieser plötzliche Ausbruch von Ekstase beeinflussen? Ein Gedanke muss unsichtbar auf dem Grund meines Verstandes gelegen haben, zusammengerollt wie eine Schlange auf dem Rasen, dass ich die Frau eines Tages verlassen würde. Sie antwortete mir ihrer Natur gemäß: »Es bedeutet gar nichts. Nachdem ich dir meine ersten Briefe geschrieben habe, wurde mir das klar. Es ist etwas, das man einfach akzeptieren muss . Akzeptiere es. Du bedeutest mir alles auf der Welt, auch wenn ich nicht weiß, warum. «
    Als das Muster deutlich wurde, wie die Drahtnetze, die man in Milchglasscheiben sehen kann, war es Erklärung genug. Manchmal, wenn sie nach vielen Drinks müde war, hatte die Frau einen verbalen Zusammenbruch; sie versuchte dann, u n sere Unterhaltung in Gang zu halten, aber sie verlor die Fähi g keit, durch die Klippen und Klüfte ihrer schwierigen Sensibil i tät zu manövrieren. Bei solchen Anlässen sagte sie dann: »Wir leben unser Leben rückwärts. Das Leben anderer Menschen ist nicht so. « Ich sah in das schwarze Licht und blinzelte.
     
    Morgen in Hotelzimmern, Zimmern, in denen man nicht ste r ben kann: in diesen länglichen oder L-förmigen Särgen, die mit einem Doppelbett, zwei Gläsern, einem Aschenbecher und einem Buch ausgerüstet sind, und in denen das Licht seltsam durch schwere Vorhänge filtriert wird. Die Dienstmädchen stoßen auf dem Flur an Gege ns tände; sie drehen am Schlüssel und entfernen sich murmelnd wieder. Morgen in Hotelzi m mern: ihr blondes Haar zerzaust auf den Kissen.
    Quietschende Reifen fahren an der Tür vorbei: ein Mädchen rollt einen Wagen den Flur entlang. Sie bleibt stehen und dreht am Türknauf. »Schrecklich «, sagt sie. Sie rüttelt noch einmal angewidert am Knauf. »Steht endlich auf. « Sie geht zur näc h sten Tür, und tritt dort ein. Wir leben im Trivialen.
    Ich öffne die Augen: sie schläft neben mir und hat mir den Rücken zugewendet. Ihr sonnengebräunter Arm scheint auf dem Kissen schwarz zu sein. Die Welt setzt sich wieder aus der Substanz meiner Erinnerungen zusammen. Während die Teile sich zusammenfügen, bleibt das Zimmer selbst unverä n dert, wie es sein muss . Es ist immer noch dämmerig im Zi m mer: die Zeit des Morgens, wenn die Haut glänzt wie nachts die Brandung des Pazifik. Im Schlaf dreht die Frau sich zu mir um. Ich habe ihr Gesicht noch niemals so gesehen. Es ist breit, große Flächen zwischen den Wangenknochen und Kiefern, ihre Stirn über schwarzen Brauen rundet es ab. Halb Eskimo, halb Mayfair. Selbst im Schlaf scheint es vom Bewusstsein erleuchtet und voll subtiler Impulsivität zu sein.
    Vorsichtig lege ich den Arm um sie und ziehe sie zu mir. Sie gibt einen leisen, unartikulierten Laut von sich. Ich lege den anderen Arm über ihre Schulter, so dass sie von mir umhüllt ist. Ihre Augen öffnen sich vor meinen. Sie sind blau und klar.
    »Du bist es «, sagt sie.

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