Straub, Peter
Verdruss nicht ganz vergessen. Enttäuschung, dachte ich. Ist es nur das? Und bin ich zu engstirnig, um darüber hinwegzukommen? Sie ging weiter.
Während ich den langen Hügel über Aix hinaufging, übe r legte ich mir, wo Cezanne sein Atelier und Haus errichtet ha t te. Sicher ganz oben. Am Horizont, den wir hinter uns sehen konnten, ballten sich schwere Wolken zusammen. Es war kein Cezanne-Tag, sagten wir. Die düstere Atmosphäre des Tages machte die Kanten der gelben Häuser und roten Ziegeldächer unklar, die Brillanz der Farben zunichte. Aber selbst beei n trächtigt durch die Schatten der Wolken, war es schön hier – eine tiefe, düstere Fülle, die ein Äquivalent zu meiner eigenen sterblichen Zerbrechlichkeit bildete. Meine Schenkel ve r krampften sich, entkrampften sich, begannen zu schmerzen.
Wir gingen weiter den Hügel hinauf. Die Häuser zu beiden Seiten, abgeschirmt von Holzzäunen, Gattern, Bäumen, gaben mir keinen Hinweis, wie weit es noch bis zum Atelier war. Die Scheibe glühte warm in mir. Als die Frau vor mir ging, sah ich die athletischen Muskeln ihrer Beine sich rhythmisch bew e gen, sah die schlanken Fesseln. Sie sah aus, als hätte sie tag e lang so weitergehen können. Ich versuchte, ihr meine Geda n ken über die A nf orderungen, die der Verstand dem Fleisch auferlegt, mitzuteilen.
Sie blieb stehen bis ich sie eingeholt hatte. »Daran ist nichts weiter «, sagte sie . » Du bist vielleicht beharrlich . Was ist? Du möchtest dich für alles verantwortlich machen. Du glaubst an Gründe, nicht an Ursachen, und daher benützt du dich selbst, um die Kluft dazwischen zu überbrücken. Sieh dir den Hi m mel an. « Ich sah auf: eine graue, sich zusammenballende Masse, dazwischen Blau. Die Sonne, dieses unergründliche Auge eines Tieres, mit dem ich mich tief verbunden fühlte, war unter der Haut der Wolken verborgen. »Der Himmel hat keinerlei Bedeutung «, sagte sie . »Die einzigen Bedeutungen, die es gibt, werden von Menschen wie James gemacht, von Menschen wie Cezanne – warum sonst würden wir uns die Mühe machen , sein Atelier zu besuchen? Das hättest du M a gruder damals im Auto sagen sollen. Deswegen lesen die Menschen. «
Sie schien so furchtlos und sprach seinen Namen so müh e los aus, dass mich Liebe zu ihr durchflutete. Ich hatte den Ei n druck, als wäre sie makellos. Als ich zum Himmel aufsah, und dann zu der langen, gewundenen Straße hinter uns, da glaubte ich zu begreifen, was sie meinte, und ich sah, dass sie recht hatte. Die physische Welt, dachte ich. Nun, sie scheint, sie scheint. Feuchtes Gras an einem verhangenen Tag.
Als wir das braune Holztor erreichten, auf dem eine kleine Plakette verkündete: Atelier Cezanne, schmerzten meine Be i ne, und ich hatte die kleine Flasche Brandy leergetrunken. Ich warf sie in den Mülleimer. Dort lag bereits eine derselben Marke. Ich war froh, dass ich ihr Gesellschaft verschaffen konnte.
»Müssen wir klingeln, oder so etwas? «
»Ich sehe keine. « Sie drückte gegen einen der Türflügel, und er öffnete sich nach innen. Wir sahen einen Weg unter wuchernden Bäumen.
»Ich glaube nicht, dass wir einfach hineingehen dürfen «, sagte ich. »Scheint verlassen zu sein. Vielleicht sollten wir einfach wieder mit dem Taxi zurückfahren. «
»Mit dem Taxi? « Fassungslosigkeit in ihrem Gesicht, ve r bunden mit einer Spur Zorn. »Woher sollen wir hier ein Taxi bekommen? Werd nicht wieder mürrisch, noch ehe wir uns umgesehen haben. « Sie trat durch das Tor und verschwand unter den riesigen Bäumen.
Ich folgte ihr unter die Äste. Sofort war die Straße hinter uns nicht mehr zu sehen, von den Bäumen abgeschirmt. Der Kiesweg, auf dem wir uns befanden, führte etwa fünf Meter geradeaus, auf beiden Seiten von Ästen gesäumt, dann ve r schwand er zwischen ihnen.
Die Frau zögerte nur einen Augenblick – ich dachte daran, wie sie am Ufer des goldenen Teichs in der Rh o ne gestanden hatte –, dann folgte sie dem Pfad. Ich folgte ihr. Der Pfad war mit Pfützen übersät, in denen sich Regenwasser gesammelt hatte; noch bevor ich sechs Schritte gemacht hatte, waren me i ne Schuhe schlammverspritzt.
Sie verschwand hinter der Wegbiegung. Ich konnte sie s a gen hören: »O-o-o-oh! « Wie ein leises Stöhnen. Ich trat mit dem Fuß in ein Loch voll verrotteter Blätter und Schlamm, und ich ahmte ihren Ruf nach, als ich ebenfalls um die Biegung kam. »O-o-oh! Oh ! « Das von Reben und Efeu überwucherte Haus lag am Ende des Pfads; es war
Weitere Kostenlose Bücher