Street Art Love (German Edition)
über sein Matheheft gebeugt und schreibt konzentriert. Ich mag, wie vertieft er in die Arbeit ist.
Vorne an der Tafel entsteht ein kleiner Tumult, weil jeder die Zeichnungen des anderen kommentiert. Pia nimmt ihre Aufgabe als Oberaufhängerin sehr ernst und lässt niemanden an die Tafel. Ich reiche ihr meine Zeichnung.
»Sollten wir nicht Gegenstände abzeichnen?«, sagt sie schnippisch.
Ich zucke nur mit den Achseln.
Kurze Zeit später ist die ganze Tafel vollgeklebt mit Kohlezeichnungen. Es sieht gut aus, und ich kneife die Augen leicht zusammen, weil die Tafel dann wie ein einziges großes Gemälde aussieht.
Pia holt Herrn Wende und Charly wieder herein.
Herr Wende ist begeistert und fordert Charly auf, zu jedem Bild einen kleinen Kommentar abzugeben. In der Klasse ist es mucksmäuschenstill. Auch wenn Charly nicht weiß, von wem die einzelnen Zeichnungen sind, möchte niemand in seiner Haut stecken.
»Die sind alle gut«, sagt er abwehrend.
»Nun, aber einige sind besser!«, sagt Herr Wende. »Und es geht nicht darum, hier jemanden bloßzustellen, daher haben wir ja den Raum verlassen. Und ich werde nichts sagen. Es geht nur um den ganz reinen Blick des außenstehenden Betrachters.«
»Okay«, sagt Charly gedehnt. Er tritt vor die Tafel und sieht sich jedes Bild einzeln an.
»Los!«, rufen die Jungs, aber er lässt sich Zeit.
Als er alle Bilder mindestens zweimal angesehen hat, sagt er: »Ich finde alle gut, aber zwei gefallen mir besonders.«
»Ja?« Herr Wende neigt interessiert den Kopf. »Dann sag uns doch, welche das sind und warum sie dir so gut gefallen.«
Charly tippt auf die Zeichnung des Buches.
»Das ist gut gezeichnet.« Dann zeigt er auf die Zeichnung von Max, die ganz außen hängt, sodass sie fast nicht mehr auf die Tafel passt. Danke, Pia!
»Und die finde ich gut, weil …«, er stockt und runzelt die Stirn, »… sie Seele hat.« Die Jungs lachen los. Charly beißt sich auf die Lippen. »Ich meine, sie ist cool gezeichnet!«, verbessert er sich schnell.
Maja stößt mich unter dem Tisch an. Herr Wende beruhigt die Klasse und schickt Charly wieder auf seinen Platz.
Alle erwarten, dass Herr Wende fragt, von wem die Bilder sind, aber das tut er nicht. Jemand, der nicht mitbekommen hat, dass es meine Zeichnung war, gratuliert Maja leise. Dann ist es still. Herr Wende lächelt. »Ich möchte nichts weiter hinzufügen. Aber ihr sollt wissen, dass das, was ihr hier vielleicht nur für ein unwichtiges Fach, Kunst, haltet, doch einen Unterschied machen kann. Im Alltag, im Leben.«
Einige seufzen, da Herr Wende öfter solche Vorträge hält.
»Und dass auch die Technik wichtig ist, das stete Verbessern seiner Kunst.« Einige lassen sich schon auf ihren Stühlen nach hinten fallen und schalten ab. »Beginnt mit dem Studium der Gegenstände, dann der Natur …«
»Nein!«, kommt es ganz laut von hinten. Alle Köpfe fahren herum zu Charly, der kerzengerade auf seinem Stuhl sitzt.
Nein?
»Möchtest du etwas sagen?«, fragt Herr Wende irritiert.
»Ich wollte nur sagen, dass es auch andere Kunst gibt. Ohne Studium und Technik und so ’nen Kram.«
Herr Wende sieht ihn an, blinzelt. »So ’nen Kram? Kannst du das vielleicht präzisieren?«
»Na, Street Art zum Beispiel.«
In der Klasse ist es jetzt so still, dass man Pia Kaugummi kauen hören kann.
»Du meinst Graffiti – solche Dinge?« Wie Herr Wende es ausspricht, klingt es nach etwas sehr Schlechtem.
»Ja, zum Beispiel. Und Künstler wie Banksy.«
Herr Wende räuspert sich. »Und wer soll das bitte sein?«
»Er kommt aus England und macht Street Art.«
Ich habe keine Ahnung, von wem er spricht. Herr Wende offenbar auch nicht.
»Den gibt es«, ruft einer der Jungs von hinten, der offenbar unter dem Tisch gegoogelt hat. »Der steht sogar bei Wikipedia!«
»Aha, bei Wikipedia«, sagt Herr Wende amüsiert. »Nun, es mag schon schöne Fassadenmalereien geben, aber auch dort kommt man nicht ohne die entsprechende Technik aus.«
Charly schweigt, die Klasse auch. Herr Wende nimmt Charlys Schweigen als Zustimmung und teilt Blätter aus.
»Aber gut! Machen wir das Experiment. Dann vergessen wir einmal jede Technik und malen oder zeichnen einfach ein wenig mit Kohle …« Er legt vor jeden ein großes Blatt, dann teilt er die Zeichenkohle aus und verschränkt die Arme vor der Brust. Und wartet.
»Was sollen wir denn nun zeichnen oder malen?«, fragt Pia unsicher.
Herr Wende lächelt entspannt. »Was ihr
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