Streng vertraulich Kommissar Morry
nicht überleben wird.“
„Welche Krankheit?“
„Tut mir leid, das weiß ich nicht.“
„Ich wußte noch nicht einmal, daß Patricias Mutter noch existiert“, sagte Lee spöttisch. „Kranke Mutter! Diese Platte kenne ich bis zum Überdruß.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Daß es eine Ausrede ist. Es gibt gar keine kranke Mutter!“
Der Geschäftsführer runzelte die Augenbrauen. „Sie vergessen, daß Miß Patricia für diesen Zweck eine volle Woche ihres regulären Urlaubs genommen hat. Warum hätte sie mich belügen sollen? Es ist schließlich ihre ureigenste und ganz persönliche Angelegenheit, was sie mit ihrem Urlaub beginnt.“
„Hat sie ihre Adresse hinterlassen?“
„Nein — das war nicht nötig. Wir haben für die Zeit ihrer Abwesenhet eine Ersatzkraft engagiert.“
„Vielen Dank, Mr. Conacro“, sagte Lee und verließ das Lokal. Auf der Straße blieb er einige Sekunden lang unschlüssig stehen. Was sollte er jetzt beginnen? Ich brauche Patricia, dachte er. Warum mußte sie ausgerechnet jetzt verreisen? Sicherlich hat sie wieder einen reichen Freund an Land gezogen. Kranke Mutter! Das ist ja zum Lachen.
Der Gedanke, daß andere Männer es sich leisten konnten, aufgrund ihres besseren finanziellen Pegelstandes Patricia einzuladen, erbitterte ihn. Voll Schmerz dachte er an sein Pech, an die gestohlenen fünftausend Dollar, und an das Riesenvermögen, das man ihm in McGraighs Haus vor der Nase weggeschnappt hatte. Langsam ging Lee die Straße hinab. Einmal schaute er über die Schulter zurück. Seit seinem Erlebnis in West Lane fühlte er sich in seiner Haut nicht mehr ganz wohl. Er hatte die Zeitungen gelesen und wußte, daß man ihn suchte. Zum Glück würde niemand, der die Beschreibung des Vagabunden gelesen hatte, auf den Gedanken kommen, daß er mit jenem unrasierten Buhman identisch sein könnte. In seiner Tasche befanden sich noch immer mehr als zweihundert Dollar; er hatte inzwischen das Hotelzimmer auf gegeben und war in eine billige Pension der West Side gezogen. Er fragte sich, ob Getty von diesem Wechsel Kenntnis genommen hatte. Die vierundzwanzig Stunden, die Getty ihm als Frist gesetzt hatte, waren längst abgelaufen. Er hat nur geblufft, dachte Lee, ich wußte es. Trotzdem war ihm nicht wohl in seiner Haut. Im Grunde fürchtete er sich jetzt vor beiden: vor der Polizei und vor der Rache Gettys. Bestimmt hat Getty eingesehen, daß ich das Geld tatsächlich nicht habe, tröstete er sich. Dann mußte er plötzlich an die Blondine denken, die ihn im Hotelzimmer um die fünftausend Dollar beraubt hatte. Er spürte, wie ihn wieder ein heißer Zorn übermannte. Wenn er doch nur diese kleine Bestie wiederfinden könnte! Im ,Blue Streak' war sie heute Abend nicht gewesen — davon hatte er sich überzeugt. Überhaupt würde sie es in den nächsten Tagen und Wochen vermeiden, sich dort sehen zu lassen. Aber wie stand es mit dem Hotel, in das sie ihn geschleppt hatte? Gewiß würde sie es wieder frequentieren!
Lee war überzeugt davon, daß sie mit dem Nachtportier unter einer Decke steckte. Er arbeitete mit ihr zusammen. Wahrscheinlich erhielt er jeweils einen Teil der Beute. Dafür warnte er sie, wenn plötzlich Polizei oder einer der betrogenen Liebhaber im Hotel auf tauchte. Lee, der nichts weiter vorhatte, winkte ein Taxi heran und ließ sich in die Nähe des Hotels bringen. Er entlohnte den Fahrer und legte dann die kurze Wegstrecke zu Fuß zurück. In einem dunklen Hauseingang, der dem Hotel schräg gegenüber lag, bezog er Posten.
Es war noch nicht einmal zehn Uhr und es war höchst unwahrscheinlich, daß die platinblonde Patricia — falls das ihr richtiger Name war — bereits einen Klienten geangelt hatte. Ich habe Zeit, dachte Lee. Ich kann es mir leisten, zu warnen. Es lohnt sich — denn immerhin geht es dabei um fünftausend Dollar. Wichtig ist nur, daß der Portier mich nicht sieht. Lee steckte sich eine Zigarette an. Die Zeit verging nur langsam. Er trat von einem Fuß auf den anderen und zuckte jedesmal zusammen, wenn ein Blondschopf auf tauchte und in dem Hotel verschwand. Und dann, nur eine Viertelstunde später, war es plötzlich soweit. Obwohl Lee diesen Augenblick herbeigesehnt hatte, war er zutiefst überrascht, daß sich sein Wunsch so schnell realisiert hatte.
Die platinblonde Patricia verschwand mit einem älteren, beleibten Mann in der Hotelhalle. Der Begleiter des Mädchens schaute vor dem Betreten des Hotels noch einmal ängstlich zurück —
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