Streng vertraulich
hatten einander satt, und noch satter hatten wir es, Merrimack Avenue 1254 anzustarren. Es war ein verblichenes Haus mit Satteldach, das vielleicht mal rosa gewesen war. Vor einer Stunde war eine puertoricanische Familie hineingegangen, und ungefähr eine Minute später ging im ersten Stock ein Licht an. Abgesehen davon, daß die zweite Dose Pepsi über das gesamte Armaturenbrett explodierte, als ich sie öffnete, gab es in den vier Stunden keine weiteren Vorkommnisse.
Ich stöberte gerade Angies Kassettensammlung auf dem Boden durch und versuchte, eine Band zu finden, die ich kannte, als sie zischte: »Kopf hoch!«
Eine spindeldürre schwarze Frau mit einer aufrechten, fast aristokratischen Haltung stieg aus einem 81er Honda Civic, im rechten Arm trug sie eine Tüte mit Gemüse, die sie auf der Hüfte abstützte. Sie sah wie Jenna auf dem Foto aus, nur gute sieben oder acht Jahre jünger. Außerdem schien sie, verglichen mit der müden Frau auf dem Bild, viel mehr Energie zu haben. Mit der linken Hüfte schlug sie die Autotür zu, eine schnelle, abrupte Bewegung, bei der sich selbst ein Eishockey-Profi wie Wayne Gretzky mit dem Arsch aufs Eis gesetzt hätte. Sie marschierte zur Haustür, steckte den Schlüssel ins Schloß und verschwand im Inneren. Wenige Minuten später erschien ihr Schatten mit einem Telefonhörer am Ohr am Fenster.
Angie fragte: »Wie machen wir es?«
»Warten«, erwiderte ich.
Sie rückte auf ihrem Sitz herum. »Hab’ ich befürchtet, daß du das sagst.« Sie stützte das Kinn auf die Hand und machte eine halbe Drehung. »Du glaubst nicht, daß Jenna da ist?«
»Nein. Seit sie untergetaucht ist, ist sie ziemlich vorsichtig gewesen. Sie muß wissen, daß ihre Wohnung auf den Kopf gestellt worden ist. Und die Abreibung, die mir das Bürschchen auf dem Schulhof verpaßt hat, sagt mir, daß sie wahrscheinlich mehr Dreck am Stecken hat als den kleinen Diebstahl, wegen dem wir sie suchen. Wenn solche Leute hinter ihr her sind - vielleicht ja auch dieser Roland -, glaube ich nicht, daß sie bei ihrer Schwester unterschlüpfen würde.«
Angie zuckte auf ihre ganz eigene Art halb mit den Achseln, halb nickte sie. Dann zündete sie sich eine Zigarette an. Sie ließ den Arm aus dem Fenster hängen, der graue Qualm sammelte sich vor dem Rückspiegel, trennte sich dann in zwei gleich große Teile und entwich aus den Fenstern. »Wenn wir schlau genug sind, um herauszufinden, wo sie ist, könnten das dann nicht auch andere? Wir können doch nicht die einzigen sein, die von ihrer Schwester wissen.«
Ich dachte darüber nach. Es leuchtete mir ein. Wenn »sie« (wer auch immer das war) sich in der Hoffnung an meine Fersen geheftet hatten, daß ich sie zu Jenna brachte, dann mußten sie sich auch an Simones Fersen geheftet haben. »Scheiße.«
»Also, was willst du jetzt tun?«
»Warten«, wiederholte ich, und sie stöhnte. »Wir verfolgen Simone, wenn sie wegfährt…«
»Wenn sie wegfährt.«
»Positiv denken, bitte. Wenn sie wegfährt, folgen wir ihr, aber wir geben ihr ein bißchen Vorsprung, um zu sehen, ob wir Gesellschaft haben.«
»Und wenn unsere Gesellschaft schon längst an uns dran hängt? Wenn sie uns gerade jetzt beobachten, wo wir sprechen, und genau das gleiche denken? Was dann?«
Ich widerstand dem Drang, mich umzusehen und nach anderen Autos mit zwei bewegungslosen Insassen Ausschau zu halten, die in unsere Richtung blickten. »Dann lassen wir uns was einfallen.«
Sie runzelte die Stirn. »Das sagst du immer, wenn du keine Ahnung hast.«
»Gar nicht«, gab ich zurück.
Um Viertel nach sieben ging es los.
Gekleidet in ein dunkelblaues Sweatshirt über einem weißen T-Shirt, hellen Jeans und uralten, lachsfarbenen Turnschuhen, kam Simone entschlossen aus dem Haus gelaufen und öffnete genauso entschlossen die Tür ihres Autos. Ich fragte mich, ob sie wohl alles mit dieser Entschiedenheit machte, mit diesem bestimmten Gesichtsausdruck, als wolle sie sagen: »Scher dich zum Teufel, wenn du mit mir nicht mithalten kannst«. Verfolgt einen diese Entschlossenheit auch noch im Schlaf?
Sie fuhr die Merrimack hoch, deshalb gaben wir ihr ein paar Häuserblöcke Vorsprung und warteten, ob wir die einzigen an ihr Interessierten waren. So schien es, und falls doch nicht, hatte ich nicht vor, meinen einzigen Anhaltspunkt zu verlieren. Wir fuhren los, und ich warf einen letzten Blick auf mein Auto im Wert von siebenunddreißigtausend Dollar - und das ist nur die Schätzung der Versicherung -, dann folgten wir
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