Streng vertraulich
wühlte Angie gerade in ihrer Handtasche herum, suchte wahrscheinlich eine verlorengegangene Mikrowelle oder ein altes Auto. Sie blickte auf. »Fertig?«
»Ich bin fertig.«
Sie holte eine Betäubungspistole aus der Tasche. »Wie sieht dieser Typ noch mal aus?«
Ich erwiderte: »Gestern abend trug er eine blaue Mütze und eine durchgehende Sonnenbrille. Aber ich weiß nicht, ob es seine normale Verkleidung ist oder so.« Ich öffnete die Tür. »Ange, du brauchst die Pistole nicht. Wenn du ihn siehst, halt dich zurück. Wir wollen herausfinden, ob er uns immer noch verfolgt.«
Angie sah die Pistole an. »Die ist nicht für ihn, sondern für mich. Falls ich in dem Kuhdorf etwas brauche, das mich wach hält.«
Wickham ist hundert Kilometer von Boston entfernt, deshalb glaubt Angie, es gäbe dort noch kein Telefon.
Ich sagte: »Man bekommt das Mädel nur aus der Stadt…«
»… wenn man sie vorher erschießt«, ergänzte sie und ging auf die Treppe zu.
Sie gab mir eine Minute Vorsprung und blieb solange in der Kirche, von wo sie die Straße durch die untere Öffnung eines Bleiglasfensters beobachtete.
Ich überquerte die Straße zu meinem sogenannten Firmenwagen. Es ist ein dunkelgrüner Volare Baujahr 1979. Der Vobeast. Er sieht scheiße aus, hört sich scheiße an, läßt sich scheiße fahren und paßt meistens zu den Orten, an denen ich zu arbeiten habe. Ich öffnete die Tür, erwartete fast, hinter mir auf der Straße das Rennen von Füßen zu hören, gefolgt vom Aufprall einer Waffe, die mich am Hinterkopf trifft. Das ist das schlimme daran, Opfer zu sein: Man redet sich langsam ein, so was würde jeden Tag passieren. Plötzlich sieht alles verdächtig aus, und jedes Licht, das man in den Tagen davor gesehen haben mochte, war von der Dunkelheit verschluckt worden. Und die Dunkelheit war überall. Man muß mit seiner eigenen Verletzlichkeit leben, das macht einen fertig.
Diesmal passierte jedoch nichts. Ich konnte Blaumütze nicht im Rückspiegel erkennen, als ich wendete und in Richtung Schnellstraße fuhr. Aber selbst wenn ihm unser Zusammentreffen in der letzten Nacht so gut gefallen hatte, glaubte ich nicht, daß ich ihn noch einmal sehen würde; ich sollte bloß immer denken, er sei in der Nähe. Ich lenkte den Vobeast die Straße hinunter, bog dann auf die nördliche Auffahrt zur I-93 und fuhr in Richtung Innenstadt.
Zwanzig Minuten später hatte ich den Storrow Drive erreicht, zu meiner Rechten blitzte kupferfarben der Charles River auf. Ein paar Krankenschwestern vom Massachusetts General picknickten auf der Wiese; ein Mann mit einem gigantischen, schokoladenbraunen Chow-Chow lief über eine der Fußgängerbrücken. Einen Moment lang überlegte ich, mir auch so einen zuzulegen. Wäre bestimmt um Längen besser darin, mich zu beschützen als Harold der Panda. Aber eigentlich brauchte ich keinen Kampfhund; ich hatte ja Bubba. Neben dem Bootshaus sah ich eine Gruppe von Studenten, die über den Sommer in der Stadt geblieben waren; sie reichten eine Weinflasche herum. Verrückte Kinder. Wahrscheinlich hatten sie auch etwas Brie und Cracker in den Rucksäcken.
Ich bog in die Beacon Street ein, drehte nochmals auf der Nebenstraße und bog dann sofort wieder nach rechts ab in die Revere Street, auf deren Kopfsteinpflaster ich die Charles Street überquerte und Beacon Hill hochfuhr. Niemand hinter mir.
Dann bog ich in die Myrtle Street ab, die nicht breiter ist als ein Streifen Zahnseide, links und rechts hohe Kolonialhäuser. Es ist nicht möglich, in Beacon Hill jemandem zu folgen, ohne bemerkt zu werden. Die Straßen waren vor der Erfindung des Autos gebaut worden, wahrscheinlich auch bevor es dicke oder große Menschen gab.
Als Boston noch diese wundervolle, mythische Stadt voller zwergengroßer Menschen war, die wie Aerobictrainer aussahen, muß Beacon Hill weitläufig gewirkt haben. Aber jetzt ist es verstopft und eng und hat eine Menge gemein mit einer alten französischen Provinzstadt - schön anzusehen, aber unter praktischen Gesichtspunkten ein Desaster. Ein zum Entladen abgestellter Laster kann den Verkehr auf eine Meile stauen. Viele Straßen verlaufen als Einbahnstraßen zwei oder drei Häuserblöcke lang nach Norden, dann wechseln sie irgendwann die Richtung und führen wieder nach Süden. Man ist gezwungen, in die nächste enge Straße einzubiegen, in der sich das gleiche Problem stellt, und ehe man es sich versieht, ist man wieder auf der Cambridge, Charles oder Beacon Street und fragt sich, wie
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