Streng vertraulich
wir die Nacht auf einer Bank verbracht, und ich hatte von der Schießerei am Bahnhof noch Marmorsplitter in den Haaren. Ich reichte ihnen meine Visa Gold, doch verlangten sie, daß ich mich zusätzlich auswies. Während der Concierge die Nummer meines Führerscheins auf einem Blatt Papier notierte, rief die Empfangsdame bei Visa an, um sich dort meine Nummer bestätigen zu lassen. Manche Menschen sind mit nichts zufrieden.
Nachdem sichergestellt worden war, daß ich der war, der ich zu sein vorgab, und daß wir wohl nicht viel mehr mitgehen lassen würden als ein Handtuch und ein paar Bettlaken, wurde uns der Zimmerschlüssel ausgehändigt. Ich unterschrieb und blickte der Empfangsdame ins Gesicht. »Ist der Fernseher in der Wand verankert, oder können wir den einfach so mitnehmen?«
Sie schenkte mir ein verkniffenes Lächeln, antwortete aber nicht.
Das Zimmer war im achten Stock, man konnte von dort auf die Boylston Street heruntersehen. Keine schlechte Aussicht. Direkt unter uns war nicht viel - ein Store 24, ein Dunkin’ Donuts -, aber dahinter zog sich eine Häuserreihe aus rötlichbraunem Sandstein entlang, einige der Häuser hatten mintgrüne Dachgärten, und dahinter hob sich der träge dahinfließende dunkle Charles vom blaßgrauen Himmel ab.
Die Sonne stieg immer höher. Ich war todmüde, doch mehr noch als Schlaf brauchte ich eine Dusche. Leider war Angie schneller als ich. Ich setzte mich hin und machte den Fernseher an. Der natürlich in der Wand verankert war. In den Frühnachrichten gab es einen Kommentar über den gestrigen Gewaltausbruch von Streetgangs in South Station. Der Kommentator, ein breitschultriger Mann mit einem Stoppelschnitt, bei dem man nicht viel mehr als die Haarwurzeln übriggelassen hatte, zitterte fast vor selbstgerechter Wut. Die Gewalt, so sagte er, sei jetzt vor unserer Haustür angekommen, und es sei höchste Zeit, daß etwas dagegen unternommen würde, egal was.
Wir begreifen so etwas immer erst als Problem, wenn es bis zu unserer Haustür vordringt. Solange es sich jahrzehntelang auf unseren Hinterhof beschränkt, bekommt es überhaupt keiner mit.
Ich schaltete die Kiste wieder aus und löste Angie ab, die aus dem Badezimmer kam.
Als ich mit dem Duschen fertig war, schlief sie schon. Sie lag auf dem Bauch, eine Hand auf dem Telefon, als hätte sie gerade aufgelegt, die andere um das Badehandtuch geschlossen. Wo das Handtuch aufhörte, glitzerten Wasserperlen auf ihrem nackten Rücken, ihre schmalen Schulterblätter hoben und senkten sich bei jedem Atemzug. Ich trocknete mich ab und stieg ins Bett. Dann zog ich die Bettdecke unter ihrem Körper hervor, und sie stöhnte leise und zog das linke Bein an den Körper. Ich deckte sie zu und machte das Licht aus.
Ich lag rechts im Bett, wenige Zentimeter von ihr entfernt, und betete, sie möge im Schlaf nicht herüberrollen. Ich hatte Angst, daß ich mit ihrem Körper verschmelzen würde, wenn sie mich berührte. Und daß es mich nicht im geringsten stören würde.
Da das im Moment mein größtes Problem war, drehte ich mich auf die Seite, sah die Wand an und wartete auf den Schlaf.
Irgendwann, kurz vor dem Aufwachen, sah ich den Jungen von den Fotos. In Wasserdampf gehüllt, trug ihn der Held einen muffigen Gang hinunter. Überall tropfte Wasser von der Decke. Ich rief dem Jungen etwas zu, weil ich ihn kannte. Ich kannte ihn in dem muffigen Gang, so wie er mit den Beinen im Griff meines Vaters zappelte. In den Armen meines Vaters wirkte er klein, noch kleiner als er war, weil er nackt war. Ich rief ihn, und mein Vater drehte sich zu mir um; unter dem dunklen Feuerwehrhelm erblickte ich das Gesicht von Sterling Mulkern. Mit Devins Stimme sagte er: »Wenn du nur halb soviel Mumm hättest wie dein Alter…« Auch der Junge drehte sich um, gelangweilt und desinteressiert reckte er den Hals um den Ellenbogen meines Vaters, selbst als seine nackten Beine wild herumschlugen. Dann blickten seine Augen leer, wie die einer Puppe, und ich spürte, daß meine Beine nachgaben, als ich verstand, daß er nie wieder vor etwas Angst haben würde.
Ich wachte auf, weil Angie über mir kniete und mich an den Schultern rüttelte. »Ist gut, ist gut«, flüsterte sie sanft.
Ich spürte deutlich ihre nackten Beine an meinen und fragte: »Was?«
»Ist gut«, antwortete sie, »war nur ein Traum.«
Im Zimmer war es stockdunkel, doch hinter den Vorhängen explodierten Lichter. Ich fragte: »Wieviel Uhr ist es?«
Sie stand auf, das Handtuch hatte sie noch
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