Stromschnellen: Roman (German Edition)
von der Lehne des Küchenstuhls. Da erblickte sie auf dem Küchentisch einen Zettel. Sie schaltete die Tischlampe ein und las die in festen, sauberen Druckbuchstaben geschriebenen Worte: An meine Nichten: Ich kann und werde nicht ins Heim gehen! Sofort ließ sie Zigaretten und Jacke fallen und stürzte nach kurzem Gerangel mit dem Hund, der im Haus bleiben sollte, hinaus in den Schneesturm. Smoke war verschwunden.
Margo hatte nicht bedacht, wie nah er mit dem Rollstuhl am Terrassenrand gestanden hatte. Er musste die Räder mit aller Kraft angetrieben haben, um über die Kante der Terrasse zu gelangen. Auf dem Hang ging es dann neben den Betonstufen ganz von allein über den schneebedeckten Boden bis an den Fluss. Margo folgte den Rollstuhlspuren nach unten. Im fahlen Licht meinte sie zu erkennen, wie Smoke abermals die Räder antrieb. Unten am Fluss blieb ein Rad im Spalt zwischen Rasen und Ufermauer stecken, und der Rollstuhl kam abrupt zum Stehen. Smoke segelte durch das Schneegestöber auf den Fluss und brach oberhalb vom Steg durch das matschige Eis. Die Stiefel rutschten unter Margo weg, als sie hinunterrannte, um ihm zu Hilfe zu kommen. Dabei stieß sie gegen den Rollstuhl, und er kippte samt Sauerstoffgerät von der Mauer ins Wasser, genau auf Smokes Beine. Die Sauerstoffflasche trieb ab und war sofort verschwunden. Smokes Körper und der Rollstuhl wurden von der Strömung zu einem Gewirr aus Ästen gezogen, das sich unter dem Steg verklemmt hatte. Smoke verfing sich darin.
Langsam und umständlich – so kam es ihr vor – ging Margo auf der Ufermauer in die Hocke, beugte sich vor und versuchte den Rollstuhl aus dem Wasser zu ziehen, aber so bekam sie ihn nicht hoch. Sie nahm die Büchse von der Schulter und steckte sie mit dem Kolben in den Schnee. Mit einem Fuß auf der Mauer und dem anderen auf dem Steg zerrte Margo erneut am Rollstuhl, kriegte ihn aber immer noch nicht von Smokes Beinen herunter. Als sie an den Ästen rüttelte, glitt sein Kopf unter Wasser. Wieder bellte Nightmare im Haus.
Margo sprang von der Mauer durch das matschige Eis ins knietiefe Wasser, und bei der Berührung mit der Kälte verkrampften ihre Waden. Sie watete bis zu den Schenkeln in den Fluss und zog Smokes Kopf und Oberkörper heraus. Ihre Beine brannten vor Schmerz.
»Ich komme Sie im Heim besuchen! Ich leiste Ihnen Gesellschaft, Smoke! Ich schmuggle für Sie Kaffee und Zigaretten rein!«, versprach sie. »Und jetzt raus mit Ihnen aus dem Wasser!«
Smokes Augen waren geschlossen. Seine dunkle Brille war fortgeschwemmt worden. Seine Beine klemmten unter dem Rollstuhl fest und kamen auch dann nicht frei, als Margo so kräftig an ihnen zog, wie sie sich traute. Der Saum ihres Parkas schwamm wie ein Ring um sie herum auf dem eiskalten Wasser und sog sich voll.
Als Margo Smoke ins Gesicht blickte, kam sie sich töricht vor. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr sie ihn liebte. Sie empfand für ihn nicht weniger, als sie für ihren Großvater, ja, vielleicht sogar für ihren Vater empfunden hatte.
»Lass mich untergehen«, bat Smoke und kippte den Kopf nach hinten. Der Himmel färbte sich allmählich rosa. Margo sah in Smokes nunmehr offene Augen: Sie waren rot und wund. Schneeflocken fielen hinein, aber er blinzelte nicht. Die Strömung zerrte an Margos durchnässtem Parka, und dadurch fühlte sich ihr ganzer Körper schwer an. Sie hätte die Jacke bei ihrer Büchse am Ufer lassen sollen, dann hätte sie später etwas Trockenes zum Anziehen gehabt. Smoke wog mehr, als sie gedacht hatte.
»Ich muss Hilfe holen.« Margo drückte beim Sprechen ihre Wange an seine, sodass sich ihre Lippen beinahe berührten. »Und die andere Sauerstoffflasche.«
»Bitte geh nicht weg«, flüsterte Smoke mit dünner Stimme. »Ich will nicht allein sterben.«
»Ich muss«, erwiderte Margo, rührte sich aber nicht von der Stelle. Ihr war klar, dass die Strömung Smoke nach unten ziehen und er ertrinken würde, noch bevor sie zurück wäre. Sie hielt ihn über Wasser. Sein Hemd hatte sich vollgesogen, aber das allein erklärte nicht, warum er sich so schwer anfühlte. Margos Füße versanken langsam im Schlamm, sie zog erst den einen, dann den anderen heraus. Die eisige Kälte des Flusses kroch allmählich ihren Bauch hoch. Im Haus bellte Nightmare immer noch.
»Lass mich untergehen.«
»Ich will Sie nicht töten, Smoke.«
»Das ist kein Töten, Kindchen«, sagte er leise an ihrer Wange.
Margo spürte Smokes bebenden Mund an ihrem Gesicht, sie
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