Stromschnellen: Roman (German Edition)
Wange.
Fishbone, der nun selten länger als ein paar Minuten blieb, bevor oder nachdem er einen Ausflug mit dem Boot machte, war davon überzeugt, dass Smokes Nichten die Sache vor den Richter gebracht hatten, weil sie sich um ihren Onkel sorgten und nicht mit ansehen konnten, wie er sich umbrachte. »Gut, das sind toughe Ladys«, räumte er ein, »aber sie sind deine Familie, und sie lieben dich.«
»Bewahre mich vor ihrer beschissenen Liebe«, raunte Smoke Margo zu, sobald Fishbone außer Hörweite war. Aber Margo konnte nachvollziehen, warum seine Nichten glaubten, dass Smoke nicht mehr allein zurechtkam. Ihr wurde ganz elend, wenn sie daran dachte, wie sehr sich sein Zustand verschlechtert hatte, und sie stellte fest, dass sie sich ständig Sorgen um ihn machte, ob sie bei ihm war oder nicht. Sie fühlte sich hilflos angesichts seiner Qual und Mühsal und hatte den Eindruck, dass auch Nightmare darunter litt. Der Hund starrte sein Herrchen oft stundenlang an und fraß manchmal fast den ganzen Tag nichts.
»Ich kann bei Ihnen einziehen, Smoke«, schlug Margo vor, als sie ihm Kaffee aus der Filtermaschine nachschenkte. »Dann wüssten Ihre Nichten, dass ich mich um Sie kümmere.«
Sie setzte sich zu ihm an den Küchentisch, und sie blickten hinaus auf den Fluss. Das Tauwetter hatte das Eis schmelzen und den Schnee kompakt werden lassen. Vor ein paar Tagen hatte sie den Schnee von der Terrasse geschaufelt, und sie war immer noch frei.
»Man darf ein Versprechen nicht zurücknehmen«, sagte Smoke leise.
»Das werde ich auch nicht«, antwortete Margo lauter als gewollt. Smokes Gehör schien im selben Maß nachzulassen, wie seine Stimme leiser wurde.
»Mir tut jeder Atemzug weh, Kindchen.« Der Hund wurde unruhig, stand auf und tappte zur Tür. »Im Heim krieg ich nicht mal richtigen Kaffee. Die haben bloß Nescafé.«
»Vielleicht können Sie bei einer Ihrer Nichten wohnen, wenn Sie schon hier ausziehen müssen.«
Er schüttelte den Kopf. Auch Margo fand die Vorstellung schrecklich. Sie ließ Nightmare hinaus, setzte sich wieder und strich etwas von der Erdbeermarmelade, die Smokes Schwester noch gemacht hatte, auf ihr Toastbrot. Er hatte ihr erzählt, dass sie einen Gehirntumor hatte und wenige Monate nach ihrem Einzug ins Pflegeheim gestorben war. Seine Schwester war »in diese deprimierende Einrichtung gegangen wie auf eine gottverdammte Party«. Es hatte ihr gefallen, dass die Pflegerinnen um sie herumwuselten und sie »wie ein verdammtes Baby« behandelten.
»Der Nacken tut mir weh«, sagte Smoke, »weil ich den verfluchten Kopf hochhalten muss.«
»Trotz allem ist es besser, zu leben, Smoke.« Margo biss in das Toastbrot und kaute, aber der Appetit war ihr vergangen. »Wenn man jemanden tötet oder jemand stirbt, hat das schlimme Folgen. Für alle.«
»Wenn er lebt, erst recht.« Smoke griff in seine Hemdtasche, zog etwas heraus und drückte es Margo in die Hand.
»Was ist das?« Sie faltete ein Bündel aus fünf Zwanzigdollarscheinen auseinander.
»Das Geld, das du mir fürs Boot gegeben hast. Und nimm dir auch mein Gewehr. Es gehört jetzt dir. Fishbone hat recht, ich brauche es so dringend wie ein Loch im Kopf.«
»Sie haben mir schon viel zu viel geschenkt, Smoke«, wehrte Margo ab. Wie sollte sie ihm klarmachen, dass ihr umso mehr daran lag, nie wieder jemanden zu töten, weil sie es bereits einmal getan hatte?
»Was zum Teufel soll ich mit einem Gewehr?«, fragte er. »Du hältst es schön sauber, stimmt’s?«
Margo schob ein Stück Toastbrot mit Marmelade, etwas Rührei und Wurst auf ihre Gabel.
»Ich hab’s verdient zu sterben. Verdammt, das musst du doch verstehen.«
»Aber was wird dann aus mir?«
»Du schaffst das schon.«
»Wenn Sie nicht mehr da sind, hab ich keinen Freund mehr.« Margo hörte Nightmare an der Tür kratzen. Sie stand auf und ließ ihn zusammen mit einem Schwall kalter Luft herein. Im Lauf des Tages sollte es angeblich wärmer werden, denn für den Abend war ein Sturm angekündigt. Nightmare legte sich auf den Vorleger zwischen ihr und Smoke.
»Dann solltest du am besten anfangen, dir ein paar Freunde zu suchen«, riet Smoke. »Nichts gegen das Einsiedlerleben, solange man Freunde hat, wenn man sie braucht.«
»Ich will aber nur Sie.«
»Ohne dich, Kindchen, wäre ich in den letzten Monaten sehr einsam gewesen.«
Seit es Smoke schlechter ging, fiel es Margo immer schwerer, ihn allein zu lassen. Als sie an diesem Morgen um zehn Uhr zu ihm gekommen war, hatte
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