Stromschnellen: Roman (German Edition)
erwiderte Joanna. Als sie Crane erblickte, rang sie nach Luft.
Einer von Cals Cousins, ein ehemaliger Militärarzt, schob sich zwischen Margo und ihren Vater. Er legte die Hände flach auf Cranes Brust und drückte rhythmisch darauf, woraufhin noch mehr Blut herausquoll. Nach knapp einer Minute gab er den Wiederbelebungsversuch jedoch auf und zog sich zurück. Margo nahm seinen Platz ein.
»Er hat auf Dad geschossen«, verteidigte sich Billy und fing an zu wimmern. »Seht euch doch das Blut auf Dad an. Crane hatte seine Remington in der Hand. Ich dachte, er will mich erschießen. Und Dad auch.«
Margo legte das Gesicht auf die Brust ihres Vaters. Plötzlich spürte sie Cals Blick auf sich. Sie drehte den Kopf, sah ihm in die Augen und entdeckte darin einen Ausdruck, den sie von ihrem Vater kannte. Er hieß so viel wie: Sei vorsichtig, denk an die Folgen. Cals Gesicht war tränennass, obwohl er gar nicht richtig weinte.
»Stimmt das, Cal?«, fragte Joanna.
»Es stimmt«, antwortete Cal matt. »Crane hat auf mich geschossen. Ich dachte, er schießt vielleicht noch mal. Billy hat mich beschützt.«
Joanna bewegte sich wie in Zeitlupe. Sie schlüpfte aus ihrem langen karierten Mantel, zog Margo hoch, die keinen Widerstand leistete, und breitete den Mantel über Cranes Kopf und Brust. Margo sank wieder auf die Knie und drückte das Gesicht in den karierten Wollstoff. Joanna ging zu Billy und nahm ihn in den Arm. Schluchzend schmiegte er sich an seine Mutter. Junior kam hinzu. Er nahm Cal das Gewehr aus der Hand und lehnte es an den Schuppen. Margo hatte Junior seit fünf Monaten nicht gesehen. Er kniete sich neben sie und legte den Arm um sie, bis Joanna ihn bat, den Wagen zu holen.
Die beiden Polizeibeamten, die für den Bezirk von Murrayville zuständig waren, trafen wenige Minuten später ein, es dunkelte bereits. Sie beschlagnahmten Cranes Remington und Billys Gewehr, wickelten sie in Plastikfolie und erklärten, ein Krankenwagen sei unterwegs. Der Größere der beiden sagte: »Hol doch mal jemand einen Waschlappen, um dem armen Mädchen das Gesicht abzuwischen.« Margo ließ zu, dass Tante Carol Slocum sie mit einem warmen, feuchten Tuch säuberte. Dabei bekam sie mit, wie Cal die Polizisten anlog. Mit gepresster Stimme erzählte er keuchend, Crane sei mit der Büchse auf ihn losgegangen und habe ihm vor ein paar Tagen schon die Reifen zerschossen. Er habe befürchtet, dass so etwas geschehen würde. Cal leitete Margo durch die Lüge, die Crane die alleinige Schuld gab, Billy und sie selbst jedoch freisprach. Er sagte, sie könnte gerne bei ihnen bleiben, bis sie ihre Mutter gefunden hätten.
Im Anschluss unterhielten sich die Polizeibeamten leise mit Margo. Sie bestätigte mit einem Nicken, dass ihr Vater auf Cal geschossen und das Gewehr dann auf Billy gerichtet hatte. Flüsternd gab sie die Antworten, die Cal ihr in den Mund gelegt hatte. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass die Polizei eingeschaltet wurde, und selbst wenn sie den Wunsch verspürt hätte, ihnen zu erzählen, was wirklich geschehen war, hätte sie nicht die Kraft gehabt, Cal zu widersprechen. Wozu auch? Ihr Vater war tot, und die Wahrheit konnte keiner von den Lebenden gebrauchen. Sie wollte nicht, dass Billy wegen Mordes hinter Gittern landete. Sie wollte selbst mit ihm abrechnen, wie sie es immer getan hatte. Ein Beamter führte ihn ab. Junior und Joanna fuhren mit dem weißen Chevrolet Suburban der Familie hinter dem Polizeiauto die Auffahrt hinunter.
Als der Krankenwagen eintraf, untersuchten die Sanitäter Crane zuerst auf ein Lebenszeichen, aber dann schüttelten sie schnell den Kopf, und einer von ihnen ging telefonieren. Sie setzten sich über Cals Einwände hinweg und überredeten ihn, in den Krankenwagen zu steigen. Margo und ein Dutzend anderer Personen blieben in der Kälte zurück, um auf den ärztlichen Leichenbeschauer zu warten. Tante Carol drängte Margo, ins Haus zu gehen und sich aufzuwärmen, aber Margo wollte nicht von der Seite ihres Vaters weichen. Sie klammerte sich an seinen Leichnam und wurde von den anderen dafür argwöhnisch beäugt, so wie damals, als sie wochenlang immer wieder am Sterbebett ihres Großvaters gesessen hatte. Der Rest der Familie hatte Grandpa gemieden, und Margo hatte es bedauert, dass sie die letzte Phase seines Lebens, in der der Schmerz den großen, eigensinnigen Mann still und nachdenklich gemacht hatte, nicht miterlebten.
Die Murrays scharten sich um sie. Zum ersten Mal seit einem
Weitere Kostenlose Bücher