Stromschnellen: Roman (German Edition)
seiner Rollkragenpullover und ein Flanellhemd an. Dann ging sie in die Küche, wo sich zwei Polizeibeamte gerade mit Junior unterhielten. Er überragte die beiden. Der kleinere Polizist, der in der Schule als »Officer Mike« bekannt war, erklärte: »Wir wollten sichergehen, dass bei dir alles okay ist, Margaret.«
»Siehst du, alle sind um dein Wohl besorgt«, meinte Junior. Margo hatte das Gefühl, dass er sich über den Polizisten lustig machte, verstand aber nicht genau, wie.
»Wir müssen uns ein wenig umsehen. Vielleicht finden wir irgendwas, was uns einen Hinweis darauf gibt, warum Mr Crane auf Cal und Billy Murray schießen wollte. Hat er so was wie ein Tagebuch geführt?«
Margo schüttelte den Kopf. Sie würden bestenfalls eine Einkaufsliste finden, die Crane hastig auf ein leeres Streichholzbriefchen gekritzelt hatte. Seine Wut auf Cal hatte er nirgendwo aufgeschrieben.
»Gibt’s hier noch andere Schusswaffen? Nicht registrierte Pistolen zum Beispiel? Dürfen wir uns mal umsehen?«
Sie zuckte mit den Schultern, was die Männer als »ja« auslegten.
»Cal Murray hat gesagt, dass er für die Beerdigung aufkommt, falls dein Vater dir kein Geld hinterlassen hat«, teilte ihr der Größere der beiden mit, nachdem sie die Suche nach aufschlussreichen Hinweisen eingestellt hatten. »Sollen wir dich zu Cal bringen?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Bist du sicher?«
»Ich möchte mit meinem Boot rüberrudern«, sagte sie. Die Polizeibeamten starrten sie an, und Margo befürchtete schon, sie würden überhaupt nicht mehr gehen. »Meine Mutter kommt mich holen, sobald sie das mit meinem Dad erfährt.«
»Wir nehmen sie mit zu uns, Officer Mike.« Junior gab den zuverlässigen Pfadfinder.
»Sag uns Bescheid, sobald deine Mutter sich bei dir meldet«, bat Officer Mike. »Vielleicht müssen wir mit ihr reden. Kann sein, dass wir in ein paar Tagen noch mal bei dir vorbeikommen, falls wir zusätzliche Auskünfte brauchen.«
»Wenn deiner Mutter ein Teil des Erbes zusteht, müssen wir sie auf jeden Fall finden«, warf Ricky ein.
Margo war klar, dass es kein Erbe geben würde. Crane schuldete einem Typen immer noch Raten für seinen zehn Jahre alten Ford, und auch beim Zahnarzt stand er in der Kreide. Er hatte Margo alle sechs Monate zur Zahnreinigung geschickt – selbst als er trank und arbeitslos war, hatte er sie mit einem Zwanzigdollarschein als Abschlagszahlung hingeschickt.
»Es wird doch keinen Prozess geben, oder?«, fragte Junior.
»Niemand bestreitet, dass dein Bruder aus Notwehr gehandelt hat, aber er hat nun mal einen Menschen getötet. Zurzeit wird ein psychologisches Gutachten von ihm erstellt.«
»Mein Beileid, Margaret«, sagte Officer Mike. Er zückte eine Visitenkarte und legte sie auf die Küchentheke. »Ruf mich an, wenn ich dich doch zu Cal bringen soll oder du irgendwas brauchst.«
»Mein Beileid«, sagte auch der Größere der beiden.
Kaum hatten sie die Tür geschlossen, ergriff Ricky das Wort. »Wir sollten nach Unterlagen suchen, nach amtlichen Dokumenten. Wenn dein Dad ein Testament gemacht hat, musst du es finden.«
Mit verquollenen Augen vom Weinen und ihrem schmerzenden Kopf hockte Margo sich neben das Bett ihres Vaters und zog eine armeegrüne Blechschachtel darunter hervor. Es kam ihr wie ein Frevel vor, die Schachtel auf den Küchentisch zu stellen und in Rickys und Juniors Beisein den Deckel zu öffnen. Das Erste, was sie darin erblickte, war ihr in Wachspapier eingeschlagener abgeschnittener Pferdeschwanz. In einem prall gefüllten Umschlag entdeckte sie Dutzende Fotos ihrer Mutter, auf denen diese von einem Ohr bis zum anderen lächelte. Im wahren Leben hatte Luanne beim Lächeln so gut wie nie die Zähne gezeigt, aber für die Kamera jedes Mal dieses künstliche Strahlen aufgesetzt. Es gab keine gemeinsamen Aufnahmen von Margos Eltern, nicht einmal ein Hochzeitsfoto. Das einzige Bild von Crane war ein winziges, dunkles Foto auf seinem Arbeitsausweis.
In einem Längskuvert steckte ein gelbes liniertes Blatt Papier mit den handgeschriebenen Zeilen: Letzter Wille und Testament. Bitte lasst mich einäschern und verschwendet kein Geld für eine Totenmesse. Gebt alles, was ich habe, meiner Frau und meiner Tochter. Tut mir leid, dass es nicht gerade viel ist. Unterzeichnet im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, Bernard Crane. Das Datum unter dem Namen war der 14. Oktober 1971. Damals war Margo knapp acht Jahre alt gewesen. Damals war noch nichts Schlimmes
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