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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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Jahr gehörte sie durch einen schrecklichen Vorfall wieder zur Familie. Als Julie Slocum in ihre Nähe kam, schnappte Margo sich ihren Arm.
    »Lass mich los!« Julie wand sich.
    Margo sah ihr in die Augen.
    »Mama, sie tut mir weh!«, schrie Julie, und alle Köpfe flogen zu ihnen herum.
    Margo zischte: »Warum musstest du es meinem Vater erzählen?«
    »Du bist voller Blut«, klagte Julie. »Du schmierst mich voll.«
    »Letztes Jahr …«, sagte Margo. »Nur deshalb ist das hier jetzt passiert.« Sie umklammerte Julies Arm so fest wie ein Ruder. Julie war pummeliger geworden und hatte schwere Brüste. Auf ihrem Gesicht lag ein harter Zug.
    »Cal will dich nicht mehr«, fauchte sie und schlug mit der freien Hand auf Margos Handgelenk.
    Margo ließ sie los. Julie rappelte sich auf und trollte sich.
    Die Polizisten schienen sich mit Margos dürftiger Zeugenaussage zufriedenzugeben. Außerdem glaubten sie Margo für die Nacht gut versorgt, weil sie bei ihren Verwandten war. Warum sollte ein Murray-Kind in Murrayville einen Sozialarbeiter oder einen Platz zum Schlafen brauchen? Eine Frau schnappte sich Margo und wischte ihr noch einmal mit einem warmen Lappen übers Gesicht. Erst nach zwei Stunden traf der Leichenbeschauer in einem weißen Lieferwagen ein. Margos Finger waren mittlerweile steif vor Kälte. Der Gehilfe des Leichenbeschauers zog sie behutsam von ihrem Vater weg. Sie hüllten Crane in ein Laken und schoben ihn in den Lieferwagen. Margo blickte dem davonfahrenden Wagen hinterher. Der Stark River floss in Richtung Bestattungsinstitut, das fünf Meilen stromabwärts neben dem Friedhof am Flussufer lag, genau gegenüber von der großen Metallfabrik, die mit ihrem Blechdach fünf Morgen Land von Murrayville bedeckte.
    Die Frauen liefen geschäftig durch die Gegend. Die zurückgebliebenen Männer waren entweder betrunken oder wie betäubt vor Aufregung. Ein paar erschöpfte Kinder stierten mit glasigen Augen vor sich hin. Sie hatten rote Ohren und gerötete Wangen. Margo fand, dass jemand sie ins Bett bringen sollte.
    »Bleibst du heute Nacht hier?«, erkundigte sich eine Frau.
    Margo schüttelte den Kopf und sagte so deutlich wie möglich: »Ich muss erst mal nach Hause.«
    »Weißt du, wo Luanne ist?«, fragte eine andere Frau, die ein Stück weiter weg stand. Margo zuckte zusammen, denn im ersten Moment glaubte sie, jemand wüsste es und könnte es ihr sagen, aber niemand wusste es. Als ihre Mutter damals verschwunden war, hatte Cal Margo oft nach ihr gefragt. Er hatte gesagt, er würde sie lehren, ihr Kind zu verlassen, und sie zurück nach Hause schleifen.
    Als eine der Frauen den Arm um Margo schlang, entzog sie sich ihr, ging hinunter zum Wasser und stieg in The River Rose . Wie gern hätte sie den Leichnam ihres Vaters über den Fluss gerudert, so wie neulich den toten Hirsch! Im fahlen Mondlicht hielt sie kurz inne und betrachtete die Arbeitsstiefel von »Red Wing«, die Crane ihr ein paar Monate zuvor gekauft hatte, als er festgestellt hatte, dass ihre Füße nicht mehr wuchsen. Ein paar Tropfen von seinem Blut perlten am geölten Leder herunter. Margo stieß sich mit einem Ruder ab.
    Am eigenen Steg angekommen, kletterte sie aus dem Boot und vertäute es. Das Wasser war tintenschwarz. Bei der Beisetzung ihres Großvaters im Januar des Vorjahres hatte die Trauer alle überwältigt: Luanne, Cal und seine ältere Schwester hatten geweint, und Joanna hatte versucht, ihre Söhne zu trösten. Margo hatte das Verlangen verspürt, sich ins Wasser fallen und flussabwärts treiben zu lassen. Das Einzige, was sie davon abgehalten hatte, in die eiskalten Fluten zu steigen, war der feste Körper ihres Vaters neben ihr gewesen.
    Sie zog Jacke und Stiefel aus und legte sie ans Uferende des Stegs. Dann rollte sie die Strümpfe ab und steckte sie in die Stiefel. Ihre Füße waren schon taub vor Kälte. Trotzdem watete sie ins Wasser. Als sie sich vom Ufer entfernte und tiefer in den Fluss vordrang, versanken ihre Füße im kalten Schlamm. Sie stieß einen lautlosen Schrei aus, als ihr das Wasser bis zu den Schenkeln reichte. Tiefer und tiefer wagte sie sich hinein, bis die Kälte ihre Wasserlilie – ein Ausdruck ihrer Mutter – elektrisierte. Am anderen Ufer huschten im Licht der Hoflampen Gestalten hin und her. Margo gab keinen Laut von sich, damit niemand sie bemerkte und womöglich glaubte, man müsse sie retten. Ihre Hüften stemmten sich gegen die Strömung, ihr Bauch verkrampfte sich, als die Kälte zu ihm

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