Studio 6
kennen lernen?«
Annika stand auf, ging zum Kühlschrank hinüber und schaute hinein. Die Regale waren gut abgetrocknet, aber ziemlich leer.
»Natürlich kann ich ihn kennen lernen, wenn es dir Freude macht. Aber diesen Sommer war ich nun mal ziemlich viel unterwegs, das verstehst du vielleicht.«
Es störte sie nicht, dass ihre Worte ironisch klangen.
Auch ihre Mutter stand auf.
»Jetzt wühl nicht im Kühlschrank herum«, sagte sie. »Es gibt gleich Essen. Du kannst den Tisch decken.«
Annika nahm sich einen kleinen Diätjoghurt und machte den Kühlschrank wieder zu.
»Ich habe keine Zeit«, sagte sie. »Ich muss nach Lyckebo.«
Die Lippen ihrer Mutter wurden dünn und weiß.
»Es ist in ein paar Minuten fertig. Du kannst ruhig warten.«
»Wir sehen uns bald wieder«, antwortete Annika.
Sie hängte sich die Tasche über die Schulter und beeilte sich, aus der Wohnung herauszukommen. Ihr Fahrrad stand noch immer im Hof, der Hinterreifen war platt. Sie pumpte ihn auf, klemmte die Tasche auf dem Gepäckträger fest und trampelte los in Richtung Granhed.
Die Fabrik glitt rechts an ihr vorbei, sie blickte aus den Augenwinkeln hinüber. Diese verdammte Fabrik, einst das Herz der Gemeinde. Vierzigtausend Quadratmeter verlassene Industriegebäude. Manchmal hasste sie das alles dafür, was es ihrer Jugend angetan hatte. Als sie geboren wurde, arbeiteten hier zwölfhundert Menschen.
Als sie mit der Schule fertig war, waren es noch ein paar Hundert. Ihr Vater musste mit der Rationalisierungswelle gehen, die die Zahl der Angestellten auf einhundertzwanzig reduzierte. Jetzt waren es noch acht. Sie fuhr am Parkplatz vorbei. Drei Autos, fünf Fahrräder.
Ihr Vater hatte mit der Arbeitslosigkeit nicht umgehen können. Er hatte für diesen miesen Job gelebt. Er erhielt niemals neue Angebote, und Annika ahnte, warum.
Verbitterung lässt sich nur schwer verbergen, und keiner möchte sie in seinem Betrieb haben. Sie kam an der Einfahrt zum Kanuklub vorbei und verlangsamte unbewusst ihr Tempo. Dort hatte man ihn gefunden, ungefähr eine halbe Stunde zu spät. Der Körper war schon zu stark unterkühlt gewesen. Er lebte noch ein paar Tage im Krankenhaus in Eskilstuna, aber der Alkohol trug das Seine dazu bei. In ihren dunkelsten Stunden hatte sie gedacht, dass es besser so war. Wenn sie darüber nachdachte, was sie nur selten tat, dann ahnte sie, dass sie sich niemals erlaubt hatte, um ihn zu trauern.
Und trotzdem bin ich ihm so ähnlich, dachte sie, schob den Gedanken aber schnell wieder fort.
Nach der Abfahrt zum Tallsjö wurde die Straße enger, hatte mehr Schlaglöcher und schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch. Annika mochte die Spätsommerfarben des Waldes nicht. Das kompakte Grün war so voller Chlorophyll, dass es nicht länger zu atmen schien, überall zeigte es exakt dieselbe Farbnuance, was ihr langweilig und einseitig vorkam.
Waldwege gingen mal rechts, mal links von der Straße ab. Alle nach links waren mit massiven Schlagbäumen und Vorhängeschlössern abgesperrt, denn hier verlief die Grenze zu den Ländereien von Gut Harpsund.
Die Straße führte steil bergauf, und sie stellte sich auf die Pedale und atmete schwer. Der Schweiß lief ihr in die Achselhöhlen, ein Bad wäre jetzt schön.
Die Abfahrt nach Lyckebo kam wie immer überraschend. Sie fuhr in der Kurve fast vorbei und geriet mit dem Fahrrad ein wenig ins Schleudern, als sie bremste. Sie machte die Tasche los, lehnte das Fahrrad an den Schlagbaum, kroch unter der Sperre hindurch und watete querfeldein durch das hohe Gras.
»Whiskas!«, rief sie. »Katerchen!«
Nach wenigen Augenblicken hörte sie ein fernes Maunzen. Die kleine gelbe Katze tauchte aus dem Gras auf, mit Schnurrhaaren, in denen die Sonne glitzerte.
»Whiskas, Liebling!«
Sie warf die Tasche ins Gras und fing die Katze auf, die in ihren Schoß hüpfte. Lachend legte sie sich zwischen die Ameisen auf den Boden und rollte mit der Katze herum, kraulte sie am Bauch und streichelte ihren schmalen Rücken.
»He, da hast du eine Zecke, du Racker. Warte, ich mache sie ab.«
Sie fasste das Insekt, das sich unter dem Kinn der Katze festgebissen hatte, mit festem Griff und zog es heraus. Es war noch ganz. Sie lächelte zufrieden. Sie hatte den richtigen Dreh raus.
»Ist Großmutter zu Hause?«
Die alte Frau saß im Schatten der Eiche. Sie hielt die Augen geschlossen und die Hände über dem Bauch gefaltet. Annika nahm ihre Tasche und ging zur Großmutter hinüber, die Katze
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