Studio 6
Wahrheit zu finden, ist verzweifelt. Er hat Recht, wir müssen gemeinsam die Verantwortung übernehmen. Es fehlt mir an Rücksicht, das Ziel ist unklar, die Konzentration nicht vollkommen. Ich brauche zu lange, um zum Orgasmus zu kommen. Wir müssen einander näher kommen, uns nur dem anderen widmen, ohne dass uns etwas stört. Ich weiß, dass er Recht hat. Mit der richtigen Liebe im Bewusstsein dürfte es keine Hindernisse geben.
Ich weiß, wo das Problem liegt: Ich muss lernen, mit meiner Sehnsucht umzugehen. Sie steht unserem Erleben im Weg, unseren Ausflügen in den Kosmos. Die Liebe trägt einen, wohin man will, aber die Hingabe muss total sein.
Er liebt mich so unaussprechlich. All die wunderbaren Einzelheiten, sein Interesse für alles, was ich bin. Seine Auswahl an meinen Büchern, Kleidern, Platten, Essen und Trinken, unser Puls und unser Atem sind eins. Ich muss mir mein egoistisches Streben abgewöhnen.
Verlasse mich nie,
sagt er,
ich kann ohne dich nicht leben.
Und ich verspreche es, wieder und immer wieder.
DIENSTAG, 31. JULI
Der Luftzug weckte sie. Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen. Durch die Augenlider ahnte sie die Schärfe des Lichts vom geöffneten Fenster. Es war Vormittag.
Nicht so spät, dass sie fürchten musste, den ganzen Tag verschlafen zu haben, aber doch spät genug, um ausgeschlafen zu sein.
Annika zog sich den Morgenrock über und ging ins Treppenhaus hinaus. Der zersprungene Mosaikfußboden war angenehm kühl. Die Toilette lag einen Treppenabsatz tiefer, und sie teilte sie sich mit den anderen Mietern der obersten Etage.
Die Gardinen flatterten im Durchzug wie große Segel, als sie wieder in die Wohnung kam. Sie hatte dreißig Meter hellen Voile gekauft, den sie dann über die alten Gardinenstangen drapiert hatte, und das Ergebnis war erstaunlich. Die Wohnung war ganz in Weiß getaucht. Die Vormieter hatten alles mit Grundierung gestrichen und dann aufgegeben. Die matten Wände reflektierten das Licht und verschluckten es gleichzeitig und ließen die Zimmer gleichsam durchsichtig erscheinen.
Sie ging langsam in die Küche. Der Boden war frei, sie besaß fast keine Möbel. Die Bohlen schimmerten grau von Seife und Scheuermittel. Die Decke schwebte wie ein weißer Himmel hoch über ihr, matt und klar. Sie kochte Wasser auf dem Gasherd, gab drei Löffel Kaffee in eine Glaskanne, schüttete das Wasser hinein und drückte anschließend das Sieb herunter. Der Kühlschrank war leer.
Sie musste sich im Zug ein Brötchen kaufen.
Die Tageszeitung lag leicht zerrissen im Flur. Der Briefschlitz war einfach zu schmal. Sie hob sie auf und setzte sich damit in die Küche.
Das Übliche. Der Nahe Osten. Der Wahlkampf. Die Hitzewelle. Nicht eine Zeile über Josefine. Sie war bereits Geschichte, eine Ziffer in der Statistik. Ein Leserbrief über die IB-Affäre. Diesmal las sie ihn. Ein Professor aus Göteborg verlangte einen Untersuchungsausschuss. Nur zu, dachte Annika.
Sie verzichtete darauf, runterzugehen und im Hinterhaus zu duschen, sondern wusch sich nur schnell das Gesicht und die Achselhöhlen am Spültisch in der Küche. Das Wasser war nicht mehr eiskalt, sie musste es nicht einmal aufwärmen.
Die Abendzeitungen waren soeben eingetroffen, und sie kaufte beide am Kiosk an der Scheelegatan. Das
Abendblatt
hatte natürlich die IB-Affäre auf der ersten Seite.
Annika lächelte. Berit hatte gewonnen.
Ihre eigenen Artikel standen allerdings auch auf guten Seiten, acht, neun, zehn und in der Mitte. Sie las ihren Text über den Verdächtigen, und er war richtig gut. Sie hatte geschrieben, die Polizei habe eine Spur, die auf eine Person in Josefines Umkreis hinweise. Josefine habe sich auch früher schon bedroht gefühlt und Angst gehabt. Es gebe Hinweise darauf, dass sie schon früher einmal misshandelt worden sei. Sie musste lächeln. Ohne etwas über Joachim zu schreiben, hatte sie doch die Theorie der Polizei formuliert. Dann war da noch die Trauerorgie in Täby, und sie war froh, dass sie den Bericht darüber kurz gemacht und die Fakten betont hatte. Die Bilder waren in Ordnung. Es waren ein paar der Mädchen vor der Kerze zu sehen, und sie weinten auf dem Foto nicht. Das war gut. Im Konkurrenzblatt stand nichts Besonderes, abgesehen von der Fortsetzung der Serie »Leben nach den Ferien«. Die würde sie im Zug lesen.
Ein heißer Wind war aufgekommen. Sie kaufte sich ein Eis zum Frühstück und ging den Kaplansbacken zum Hauptbahnhof hinunter. Sie hatte Glück, der Intercity
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