Studio 6
erstaunt.
»Ja, guten Morgen«, erwiderte Berit ironisch. »Birger Eimer traf im Stallmästaregården regelmäßig den amerikanischen Botschafter und den amerikanischen Geheimdienstchef, um mit ihnen zu essen. Eimer und Palme haben auch häufig miteinander geredet. Ich kümmere mich um die Politik, du musst dafür sorgen, dass die Amis zufrieden sind, hat Palme gesagt. Ich muss in den Demonstrationszügen mitgehen und das Maul aufreißen, aber du musst dafür sorgen, dass die Yankees bei Laune bleiben.«
»Und jetzt ist plötzlich eine Kopie aus diesem Archiv aufgetaucht?«, hakte Annika nochmals nach.
»Ich bin überzeugt, dass das Original immer noch existiert«, sagte Berit, »die Frage ist nur, wo.«
»Und das Archiv des Innenministeriums?«
»Es war vollkommen ungesetzlich, was da getrieben wurde. Die Unterlagen enthielten detaillierte Personenangaben über Menschen, die als Feinde der Sozialdemokraten angesehen wurden, insgesamt ungefähr zwanzigtausend Namen. Alle, die da verzeichnet waren, sollten im Falle eines Kriegsausbruchs sofort verhaftet werden. In Friedenszeiten konnte es sein, dass sie nur schwer einen Job finden konnten. Sie wurden von Positionen in den Gewerkschaften ausgeschlossen. Man musste übrigens nicht Kommunist sein, um auf der Liste zu landen. Es genügte, die falsche Zeitung zu lesen, die falschen Bekannten zu haben oder zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.«
Sie saßen eine Weile schweigend da. Annika räusperte sich.
»Aber hier geht es doch trotz allem um Dinge, die vor vierzig Jahren passiert sind«, sagte sie. »Damals haben sie Leute zwangssterilisiert und überall mit DDT herumgesprüht. Wieso sind diese Papiere heute noch so wichtig?«
Berit dachte nach.
»Es sind da wahrscheinlich jede Menge unangenehmer Dinge zu lesen, über Wanzen und Einbrüche und all so was. Aber das Wichtigste ist dahin: das Gesamtbild.«
»Und was bedeutet das Ganze?«, fragte Annika.
Berit überlegte.
»Die wichtigsten Sozis waren im Grunde genommen amerikanische Spione. Der Bruch der Neutralität, der sich hinter den Dokumenten verbergen könnte, ist nach heutigem Maßstab schlimmer als die Überwachung von Ansichten. Die Sozis haben nicht nur die ganze Nation angelogen, sondern auch hinter vorgehaltener Hand mit den Supermächten gespielt. Die Sowjets wussten, wo Schweden stand, vor allem wegen Wennerström. Dem hatten die Russen in ihren Kriegsvorbereitungen Rechnung getragen. Wahrscheinlich war Schweden im Falle eines neuen Krieges gerade wegen dieses Doppelspiels ein vorrangiges Angriffsziel.«
Annika schaute Berit mit großen Augen an.
»Du meine Güte«, sagte sie. »Glaubst du wirklich, dass es so schlimm war?«
Berit trank ihren letzten Schluck Bier aus.
»Wenn die Arbeit der IB wirklich offen gelegt würde, bis in ihre miesesten Details, dann wäre das vernichtend für die schwedische Sozialdemokratie. Das Vertrauen in sie wäre gebrochen, und zwar vollständig. Das Archiv ist der Schlüssel dazu. Es dürfte den Sozis schwer fallen, in absehbarer Zeit noch einmal an die Regierung zu kommen, wenn diese Dokumente ans Tageslicht kämen.«
Die jungen Leute am Nebentisch brachen mit Gegröle und Gelärme auf. Sie stolperten in die Hitze hinaus und hinterließen ein abstraktes Muster von Erdnüssen und verschüttetem Bier auf dem Tisch. Annika und Berit schauten ihnen nach, wie sie über den Zebrastreifen zur Bushaltestelle gingen. Der 62er kam, und die Jugendlichen stiegen ein.
Annika fragte sich plötzlich, ob sie etwas über die Ninja Barbies sagen sollte.
Berit sah auf ihre Uhr.
»Es ist Zeit«, meinte sie, »gleich geht mein letzter Zug.«
Annika zögerte, Berit winkte den Kellner heran.
Egal, dachte Annika, es erfährt sowieso niemand etwas davon.
»Morgen habe ich frei, darauf freue ich mich«, sagte sie stattdessen.
Berit lächelte etwas neidisch.
»Ich darf mich jetzt ein paar Tage mit der IB beschäftigen«, sagte sie. »Aber das ist eine willkommene Plage.«
Annika erwiderte ihr Lächeln.
»Ja, ich merke schon, dass du das gern machst. Bist du selbst Kommunistin?«
Berit lachte.
»Und du spionierst für die Sapo oder was?«
Annika lachte mit.
Sie bezahlten und gingen in den Sommerabend hinaus, der langsam seine Farbe und seine Form zur Nacht verändert hatte.
Siebzehn Jahre, elf Monate und acht Tage.
Die Zeit rast und hinterlässt tiefe Spuren. Die Wirklichkeit macht die Liebe durch ihre Kleinlichkeiten und ihre Eintönigkeit kaputt. Unser Ehrgeiz, die
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