Stuermische Gefahr
Patienten hatten erzählt, dass sie zumindest die Stimmen der Angehörigen wahrgenommen hatten. Wenn dem so war, hatte sie ihm viel zu viel erzählt. Wer konnte schon wissen, wer er wirklich war? Ihre Vergangenheit beinhaltete ein paar Dinge, die sie keinem Fremden erzählen sollte. Das konnte gefährlich für sie werden. Bei ihrem Glück war er vielleicht Journalist und würde eine heiße Story aus ihrem Leben machen. Sie rief sich zur Ordnung, das wäre einfach ein zu großer Zufall, sie hatte in letzter Zeit die Angewohnheit entwickelt , sich in manche Dinge hineinzusteigern. Sie musste sich selbst mal wieder vertrauen. Sie hatte ihm all die traurigen Details aus ihrer Vergangenheit erzählt, weil es sich gut angefühlt hatte, sich auszusprechen. Es war besser , ihm alles zu erzählen, als beispielsweise Lily. Sie musste einfach davon ausgehen, dass er sich nicht würde erinnern können.
Seine Züge waren entspannt, auch wenn der Schlauch aus seinem Mund ragte. Sie fragte sich, welche Augenfarbe er hatte. Wahrscheinlich blau, denn seine Haare waren blond. Er lag seit gut drei Wochen hier. Mittlerweile waren seine Haare etwas gewachsen. Natürlich nicht hinterm Ohr, da hatte man sie wegrasiert. Bald würden sie auch da nachwachsen und die winzige Narbe überdecken, die die Operation hinterlassen hatte. Sie strich ihm einige Strähnen aus der Stirn.
Warum interessierte er sie so? Welche Augenfarbe er hatte, wie sich seine Stimme anhörte? Sie hätte ein Augenlid anheben können. Die Ärzte hatten das sicher oft genug getan, aber das wollte sie nicht. Sie wollte, dass er es von allein tat. Wie würde er sie dann ansehen? Kein Mensch wusste , ob sein Gehirn Schaden erlitten hatte und in welchem Zustand er erwachen würde, wenn er denn aufwachte. Zu viele Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Aber die wichtigste Frage war: „Wer bist du?“
Wenn sie bei ihm war, dann fühlte sie sich endlich nicht mehr allein. Seine Nähe gab ihr Trost, obwohl er sie überhaupt nicht wahrnehmen konnte, sich mit ihr unterhalten oder sie berühren konnte. Hätte er ihr gesagt, dass sie all das ändern konnte? Dass sie dieses selbst auferlegte Exil durchbrechen konnte? Würde er ihr helfen? Aber warum sollte er, sie war eine Fremde für ihn. Sie wünschte sich, dass es anders wäre. Sie war nie gern allein gewesen in ihrem Leben, aber sie musste damit klarkommen. Im Grunde hatte sie hier nichts verloren, aber was sprach dagegen, wenigstens die Momente mit ihm zu genießen, wenn sie sich dadurch besser fühlte. Sie ertappte sich dabei, dass sie lächelte, als sie wieder mal den Blick über seinen Körper schweifen ließ. Auch wenn er sorgsam zugedeckt war, konnte man erkennen, dass er groß und sein Körper perfekt war. Schließlich hatte sie ihn auch schon gewaschen. Sie hatte alles an ihm gesehen. Vom perfekten Oberkörper zu den breiten Schultern hin zu den muskulösen Oberarmen. Sie hatte auch tiefer geschaut. Die schmale Taille … wenn sie an sein Geschlecht dachte, wurde ihr heiß im Gesicht. Für ihre extrem unprofessionellen Gedanken und Gefühle hatte sie sich mehr als einmal gescholten. Aber alles an seinem Körper war nicht nur beeindruckend, sondern löste in ihr eine Wärme und Sehnsucht aus, die sie nicht benennen konnte. Seine Hilflosig keit wenn sie sich um ihn kümmerte, hinterließ ein Brennen hinter ihrem Brustbein, und sie ließ es sich nicht nehmen sich um ihn zu kümmern, pflegte und versorgte ihn als hätte sie allein einen Anspruch darauf.
Ob er ein Arbeiter war? Das würde die Muskeln erklären, die nicht nach Fitnessstudio , sondern harter, körperlicher Arbeit aussahen. Dennoch, dazu waren seine Hände zu gepflegt. Sie konnte rätseln so viel sie wollte, solange er nicht aufwachte, und mit jemandem sprach, würde sie es nicht erfahren.
Was, wenn er Familie hatte? Eine Frau? In diesem Fall hätte sie mit der Familie fühlen müssen, die ihn nun sicher schmerzlich vermisste. Es war egoistisch und im Grunde ungeheuerlich von ihr, aber wenn sie ganz tief in sich hineinhorchte , mochte sie im Moment gar nicht daran denken, dass da vielleicht jemand auf ihn wartete und sich Sorgen machte.
Er war ihr John Doe.
Sie schob diesen Gedanken schnell beiseite. Wie konnte sie nur so etwas Trauriges überhaupt in Erwägung ziehen? Jeder Mensch verdiente es, dass sich jemand Sorgen um ihn machte. Sie seufzte innerlich und strich ihm noch einmal über die Stirn. Sie fühlte sich so sehr zu ihm hingezogen. Unglaublich.
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