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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
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eine neue Erfahrung, die sie lieber nicht gemacht hätte.

    Sie starrte auf seine großen nackten Füße, die wächsern und bleich wirkten, wie die einer Leiche. Auf den Zehen wuchsen kleine schwarze Härchen, die sie zugleich faszinierend und abstoßend fand. Barfuß stapfte er über den Linoleumboden. »Wo hat deine Mutter den Kaffee?«, fragte er.
    William saß wie festgewachsen auf seinem Stuhl, mit weit aufgerissenen Augen, und sein Löffel hing wie erstarrt in der Luft, dicht vor seinem Mund. »Auf der Anrichte, in dem Blechding«, erwiderte er schließlich.
    Tom wiederholte gut gelaunt »in dem Blechding« und machte sich daran, Kaffee zu kochen. Annie bohrte ihm mit Blicken Löcher in den Rücken. Tom war ein großer, starker Mann, der ihrer Meinung nach immer eine falsche Freundlichkeit zur Schau trug. Nur selten tauchte er ohne Geschenk für sie und ihren Bruder auf, aber meistens war es ein ödes Mitbringsel, das er in letzter Minute beim Krämer an der Ecke gekauft hatte, etwa ein Jo-Jo oder auch nur eine Mini-Salami. So wie jetzt hatte sie ihn noch nie gesehen - verschlafen, ungekämmt, unordentlich. Und er sprach zum ersten Mal mit ihnen, als hätte er sie ernst genommen. So, wie man mit Leuten sprach, die wussten, wo der Kaffee aufbewahrt wurde.
    »Was tun Sie hier?«, fragte Annie.
    Er wandte sich um. Seine Augen wirkten müde, der Blick zerstreut. »Ich mache Kaffee.«
    »Ich meine, was haben Sie in meinem Haus zu suchen?«
    William löste sich aus seiner Erstarrung und schob den Löffel in den Mund, ließ aber Toms Rücken nicht aus dem Blick. Aus seinem Mundwinkel lief etwas Milch, und ein Tropfen hing an seinem Kinn wie weißer Leim.

    »Deinem Haus?«, fragte Tom. »Ich dachte, es gehört deiner Mutter.«
    Sehr witzig, dachte sie wütend.
    Tom hielt eine Schachtel Cornflakes hoch und hob die Augenbrauen. »Mehr gibt’s nicht zum Frühstück?«
    »Wir haben Toastbrot«, antwortete William mit vollem Mund. »Manchmal macht meine Mutter Eier. Und Pfannkuchen.«
    Annie schaute ihren Bruder mit einem funkelnden Blick an.
    »Ja, vielleicht sollte ich Monica bitten, mir ein paar Eier zu machen«, murmelte Tom zerstreut. Er schenkte sich Kaffee ein, bevor die Kanne ganz voll war. Ein paar Tropfen fielen zischend auf die Warmhalteplatte.
    Jetzt sagt er schon nicht mehr eure Mutter, sondern Monica, dachte Annie.
    Tom kam an den Tisch, wobei seine nackten Füße schmatzende Geräusche auf dem Boden machten, zog einen Stuhl zurück und setzte sich. Sein Geruch hatte sich mit dem ihrer Mutter vermischt, und das fand Annie abstoßend.
    »Das ist der Platz meiner Mutter.«
    »Sie wird nichts dagegen haben«, erwiderte er mit seinem falschen, herablassenden Lächeln. Jetzt waren sie für ihn wieder die kleinen Kinder, und doch hatte Annie das Gefühl, dass er ein bisschen Angst vor ihr hatte. Vielleicht begriff er jetzt, was er getan hatte. Vielleicht auch nicht. Sie blickte ihn wütend an, aber er ignorierte sie demonstrativ und wandte sich William zu.
    »Gleich geht’s in die Schule, was?«, fragte er, während er dem Jungen übers Haar strich.

    William nickte.
    »Zu schade, dass du nicht einen Tag schwänzen und mit mir angeln gehen kannst. Bevor ich gestern Abend gekommen bin, habe ich einige ansehnliche Forellen gefangen, fünfundvierzig bis fünfzig Zentimeter lang. Ich hab eurer Mutter fürs Abendessen ein paar mitgebracht.«
    William reckte die Brust vor. »Ich will mitkommen. Auch wenn ich noch nie angeln war. Ich kann das bestimmt.«
    »Daran zweifelt niemand, kleiner Mann.« Tom schlürfte seinen heißen Kaffee und zeigte auf den vollgestopften Vorraum, wo er seine Weste an den Haken gehängt und die Angelrute abgestellt hatte. »In meinem Pick-up habe ich noch eine Angel. Die könntest du benutzen.«
    Plötzlich rutschte William aufgeregt auf seinem Stuhl hin und her. »Heute sind wir früh mit der Schule fertig. Vielleicht danach?«
    Tom blickte Annie an.
    »Früh fertig«, sagte sie mit unbewegter Miene. »Der Unterricht dauert bis zwölf.«
    Tom nickte und schaute wieder William an, den er nun ganz auf seine Seite gezogen hatte. »Vielleicht hole ich dich nach der Schule ab. Ich frage deine Mutter, ob sie einverstanden ist. Willst du auch mitkommen, Annie?«
    Sie schüttelte sofort den Kopf. »Nein.«
    »Du solltest ein bisschen umgänglicher werden«, sagte Tom mit einem dünnen Lächeln.
    »Und Sie sollten nach Hause fahren.«
    Als Tom gerade antworten wollte, kam ihre Mutter die Treppe

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